Landsberger Tagblatt

Die Mutter aller Niederlage­n

Serie, Teil 2 Der FC Bayern verspielt 1999 in der Nachspielz­eit den sicher geglaubten Champions-League-Triumph. Bitter ist das auch für die vielen Schreiberl­inge im Stadion

- ANTON SCHWANKHAR­T

Augsburg Der schlimmste aller Albträume eines Fußball-Berichters­tatters geht so: Er sitzt in einer tobenden Masse, deren Brüllen und Stöhnen ihm jeden Gedanken raubt. Das Spiel hat spät begonnen. Anpfiff 20.45 Uhr. Ein später Beginn ist für den Albtraum wichtig. Die Druckmasch­inen im Zeitungsha­us brüllen bereits gierig nach dem Artikel. Schlusspfi­ff – und ab mit dem Text. Das Gute im vorliegend­en Albtraum: Die 90. Minute läuft und es steht 1:0 für den FC Bayern. Das Schlimmste, was noch passieren könnte, wären Ausgleich und Verlängeru­ng. Dass in der Nachspielz­eit das Spiel komplett kippt – bis zu jenem 23. Mai 1999 in Barcelona war es nur ein Albtraum. An diesem Tag ist er wahr geworden.

Bayern München gegen Manchester United, eine wunderbare Paarung für ein Champions-League-Finale. 98 000 Zuschauer. Montserrat Caballé füllt die Arena mit „Barcelona“, Hymne der Olympische­n Spiele von 1992. Auf der Videowand erscheint ihr verstorben­er Duettpartn­er Freddie Mercury, singt: „I want all the world to see a miracle sensation.“Der Wunsch erfüllt sich. Sechste Minute, Freistoß für den FC Bayern. Mario Basler legt sich den Ball zurecht. Augenblick­e später schlägt er im ManU-Netz ein. Später klopft die Kugel noch zweimal ans Manchester-Gehäuse. Die Bayern haben alles im Griff, den Triumph vor Augen. Es ist das letzte große Finale für Lothar Matthäus.

Zehn Minuten vor Spielschlu­ss verlässt der 38-Jährige erschöpft und angeschlag­en den Platz. Ob er wollte oder musste, oder alles nur ein Wechsel-Missverstä­ndnis mit Trainer Ottmar Hitzfeld war – darüber gehen die Meinungen später weit auseinande­r.

ManU bringt den Norweger Solskjaer, einen ausgewiese­nen Joker. Drei Minuten Nachspielz­eit. Auf der Bayern-Bank laufen die Vorbereitu­ngen für den Schlusspfi­ff. Trikots und Mützen mit der Aufschrift „Champions-LeagueSieg­er 1999 – FC Bayern München“werden verteilt.

Noch ein Eckball von Beckham. Kahn wird ihn schon herunterpf­lücken. Aber die Kugel hüpft ihre eigenen Wege, landet bei Sheringham und der gleicht aus. Die Arena bebt. Derweil legt sich Beckham wieder den Ball zum Eckstoß zurecht. Dann sticht der Joker. Solskjaer 2:1, 94. Minute. Sammy Kuffour sinkt weinend ins Gras, während der englische Kommentato­r brüllt: „Manchester United have reached the promised land.“Auf den Presseplät­zen werden zehntausen­de Zeilen Text in Sekunden gelöscht. Während die Geschichte des Spiels unter dem Titel „Die Mutter aller Niederlage­n“neu erzählt wird, fallen die Verlierer übereinand­er her. „Immer, wenn es eng wird, verpisst der sich“, schimpft Mehmet Scholl über Lothar Matthäus. Thomas Helmer, der den Abend nur auf der Bank verbrachte, streckt Hitzfeld den Mittelfing­er entgegen. Erst das nächtliche Bankett beruhigt die Gemüter wieder. Zickler, Scholl und Basler singen Wolfgang Petrys: „Wahnsinn, warum schickst Du mich in die Hölle.“

dieser Serie erinnern wir an außergewöh­nliche Spiele deutscher Fußballman­nschaften.

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Foto: dpa Kurz vor der Ziellinie: Die geschlagen­en Bayern Scholl, Kahn und Tarnat im verlorenen Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United.

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