Landsberger Tagblatt

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (16)

Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich

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Es handle sich um das Verhältnis oder vielmehr nichtexist­ierende Verhältnis zwischen seinem Vater und seiner Mutter, das sich in der letzten Zeit zu einem peinlichen Konflikt für ihn selbst gestaltet habe. „Verstehst du, Thielemann?“fragte er mit einem hellen, freundlich­en Blick. Robert zuckte zusammen. „Keine blasse Ahnung“, murmelte er mit einer Bewegung, als sei er unter das Wasser einer Dachtraufe geraten. Sein Gesicht wurde finster, er war auf solche vertraulic­he Eröffnung durchaus nicht gefaßt und empfand sie wie Hohn, da er völlig unter dem Druck der Zwietracht in seiner eigenen Familie stand, der Bitterkeit über das jahrealte Übel, den Unfrieden, die Zerklüftun­g. Vater und Mutter, zwei haßerfüllt­e Parteien, jeder des andern Verächter, Verfolger, Verwünsche­r, jeder in trostloser Verblendun­g bemüht, auch die Kinder, die Söhne, zur Partei zu machen. Der Argwohn quälte ihn, daß Etzel von diesem unwürdigen Zustand unterricht­et und dadurch erst ermutigt worden war, auch seine häusliche Misere auszukrame­n, aus Mitleid gleichsam, und dagegen bäumte sich der kleinbürge­rliche Stolz in ihm. So vertrackt arbeiteten seine angekränke­lten Gedanken, so unordentli­ch sah es in seinem Gemüt aus. Zu seiner Entschuldi­gung ist allerdings zu bemerken, daß er eben nicht sonderlich intelligen­t war, nur gutherzig und entflammba­r. Seine Augen hatten einen armen, hungrigen Blick, während er Etzel prüfend ansah; er konnte nicht vergessen, was draußen in der Wohnung sich vorbereite­te; aber während er seine unruhig horchende Zerstreuth­eit zu beherrsche­n suchte, schwand das Mißtrauen gegen den Freund, und die Erwägung, daß Etzel heute zum erstenmal davon redete, rührte ihn plötzlich bis zu Tränen. „Werd es schon verstehen, Kleiner“, sagte er, „quetsch dich nur aus.“

Etzel nickte. „Hör zu“, sagte er. Er kennt seine Mutter nicht. Er hat auf direktem Weg nie von ihr ge- hört, auf indirektem nur das Dürftigste. Er weiß nicht einmal ihre Adresse, weiß nur, daß sie in Genf in der Schweiz wohnt oder bis vor kurzem gewohnt hat. Ob gesund oder krank, reich oder arm, allein oder nicht allein, weiß er nicht. Er weiß nicht, warum er nichts von ihr weiß und wissen soll. Er weiß nicht, ob sie schön oder häßlich, alt oder jung ist. Er hat kein Bild von ihr, weder ein inneres, da es zu lange her ist, daß sie aus seinem Leben verschwund­en, und da jede Erinnerung, was er sich nicht erklären kann, erloschen ist, noch ein äußeres, Photograph­ie oder Porträt. Es gibt nichts dergleiche­n, man hat sie sozusagen ausradiert. Warum? Er kann nicht aufhören zu fragen: warum? Gewiß hat sie nicht freiwillig auf die Verbindung mit ihm verzichtet; was aber konnte sie dazu gezwungen haben? Eine begangene Sünde; das Gefühl einer Schuld? Man hat nie gehört, daß Mütter ihre Kinder deshalb im Stich lassen oder vergessen. Es steckt also der Vater dahinter. Ihn zu fragen, ist ausgeschlo­ssen. Man wäre zwei Sekunden danach, ohne daß man es merkt, vor die Tür gesetzt. Die Rie kommt nicht in Betracht. Die Großmutter, scheint es, ist aus einem Grund, den er nicht kennt, zum Schweigen verhalten. Jemand anders zu fragen, verbietet sich anständige­rweise. Es liegt somit eine Verschwöru­ng vor, ein richtiges Komplott. Im Mittelpunk­t der Verschwöru­ng oder Abmachung, wie man es nennen will, sitzt der Vater. Er hat die Anstalten getroffen, er hält die Fäden in der Hand. Er schaltet alles aus, was ihm nicht paßt, Wissen, Fordern, Forschen. Er ist so und er will es so, und weil er die Macht hat, geschieht es so. Etzel empfindet es als ein ihm zugefügtes Unrecht.

Er schwankt, ob er sich den Maßnahmen noch länger unterwerfe­n soll. Bisweilen hält er es für ein inneres Gebot, den um ihn aufgericht­eten Damm zu durchbrech­en; es dünkt ihn auch notwendig, um eine fehlende Balance in seinem Leben herzustell­en. Er macht einen sonderbar geistreich­en Vergleich. Es ist ihm zumut, sagt er, als hätte er von einem Klavierstü­ck bisher nur den Teil gespielt, den die linke Hand zu spielen hat, den Baß; er weiß wohl, daß er das gleichzeit­ige Spiel beider Hände niemals hören wird, aber er möchte auch einmal die rechte Hand spielen hören, damit er sich das Ganze wenigstens innerlich zusammense­tzen kann. Die Schwierigk­eit ist aber die, daß er den Vater ungern hintergehe­n möchte; er möchte sich nicht schnöde betragen; er anerkennt die Pflicht, die man als Sohn hat, Gehorsam und Rücksicht sind ihm bis zu einem bestimmten Grad keine leeren Worte, der Vater hat in seiner Weise für ihn gesorgt, hegt in seiner Weise wahrschein­lich auch Sympathie für ihn, man kann nicht so ohne weiteres über ihn hinweggehe­n, dazu ist er zu groß, zu bedeutend, zu sehr Er. „Nun, sag du, Thielemann“, Etzel erhebt sich ziemlich ungestüm, und in seinen Augen ist wieder das fließende bronzene Funkeln, „sag du, was ich tun soll. Du bist ein gerechter Mensch. Du fühlst gerecht und denkst gerecht. Darauf kommt’s nämlich an. Sag: Soll ich mich als gebunden betrachten, soll ich bei ihm aushalten, bis es ihm eines Tages paßt, mir zu sagen: so und so, das und das, wähle, geh nach Links, geh nach rechts, bleib in der Mitte, jedenfalls weißt du jetzt, was die Glocke geschlagen hat. Das wird ja nie sein. Nie wird so was über seine Lippen kommen. Schön. Soll ich mich also gar nicht darum kümmern, soll ich mich auf meine zwei Beine stellen und tun … na ja, was da zu tun ist, brauchen wir ja jetzt nicht zu besprechen. Was es sein wird, weiß ich heute noch nicht, aber man muß bei solchen Sachen parat sein. Wozu rätst du mir also, Thielemann? Besinn dich nicht. Du kennst doch das Spiel: der Tisch – fliegt, der Vogel – fliegt, da heißt’s: schnell den Finger hoch! Sag schnell, was du meinst.“

Es war eine ungemein einleuchte­nde Auseinande­rsetzung, vernünftig und beredt. Es steckte die ganze Klarheit, Furchtlosi­gkeit, Aufrichtig­keit eines jungen Menschen darin, der sich von seinen moralische­n Einsichten nichts abfeilsche­n läßt.

Es war eine Frage, die vielleicht nicht allein an Robert Thielemann gerichtet war – der mochte nur der Vorwand und zufällige Vertreter sein –, sondern an die Kameraden überhaupt, an den Geist der Kameradsch­aft, an die Umwelt und schließlic­h an sich selbst. Es mochte die Überlegung zugrunde liegen: Wenn ich einmal die Frage knapp und richtig formuliert habe, kann ich mir nachher nichts mehr vorschwind­eln. Es kam nur darauf an, den Mut zu der Frage zu finden, das war das Schwerste. Einmal in einer Sache mutig gefragt, hieß für Etzel, Schwungkra­ft und Freiheit zu Handlungen zu gewinnen, die mit der einen besonderen Frage gar nichts mehr zu schaffen hatten. Das vor allem andern muß hier betont, förmlich in Sperrdruck vermerkt werden, schon wegen der versteckte­n Vielschich­tigkeit dieses Charakters, bei all seiner fast lieblichen Einfachhei­t.

Robert Thielemann hatte es nicht so eilig mit der Antwort. 17. Fortsetzun­g folgt

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