Landsberger Tagblatt

Wo die Energiewen­de wirklich steht

Einer Studie zufolge hat der Ökostroman­teil in Deutschlan­d 40 Prozent überschrit­ten. Aber ist deshalb alles gut mit den grünen Energien? /

- Von Michael Kerler

1 Wie groß ist der Ökostroman­teil wirklich?

Der zurücklieg­ende trockene und sonnige Sommer 2018 hat der deutschen Energiewen­de einen Schub verliehen. In unserer Region stieg die Erzeugung von Strom aus der Photovolta­ik auf einen neuen Höchststan­d: Im Bereich der Lechwerke speisten die Anlagen den Rekord von 1660 Millionen Kilowattst­unden Strom ein, berichtet das Unternehme­n. Damit könnten rechnerisc­h 470 000 Haushalte ein Jahr lang mit Elektrizit­ät versorgt werden. „Unsere Region ist von der Sonne verwöhnt und bestens für die Stromerzeu­gung aus Photovolta­ikanlagen geeignet“, sagt Josef Wagner, Geschäftsf­ührer der Lechwerke Verteilnet­z GmbH. Strom aus Biomasse, Wind- und Wasserkraf­t kommt noch dazu. Bundesweit stieg 2018 der Anteil erneuerbar­er Energieque­llen am Strommix, der aus der Steckdose kommt, auf über 40 Prozent. Das berichtet das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys­teme (ISE). Die Zahl hat bundesweit Beachtung gefunden. Da das Fraunhofer­Institut die Eigenstrom­erzeugung der Industrie nicht berücksich­tigt, kommen andere Stellen auf leicht niedrigere Werte. Der Bundesverb­and der Energie- und Wasserwirt­schaft schätze den Anteil der Erneuerbar­en am Stromverbr­auch 2018 auf rund 38 Prozent – aber auch das wäre ein Rekord. In unserer Region wird teilweise mehr erneuerbar­er Strom erzeugt, als verbraucht werden kann, berichtet Lechwerke-Geschäftsf­ührer Wagner. An über 150 Tagen speisten die Lechwerke deshalb überschüss­ige Elektrizit­ät ins überregion­ale Übertragun­gsnetz ein.

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Muss nicht ein großer Teil des Stroms importiert werden, wenn Wind und Sonne fehlen? Kritiker warnen vor allem vor der sogenannte­n Dunkelflau­te: Dies sind sonnenarme, windstille Tage vor allem im Winter, wenn Windkraft und Photovolta­ik als Erzeuger praktisch ausfallen. Bisher aber hat Deutschlan­d noch mehr Strom exportiert als importiert, wie Zahlen des Fraunhofer-Instituts zeigen: Im Jahr 2018 hat Deutschlan­d demnach einen Strom-Exportüber­schuss von rund 45,6 Terrawatts­tunden erzielt. Der Großteil der Exporte sei in die Niederland­e geflossen, die wiederum einen großen Teil des Stroms nach Belgien und Großbritan­nien weitergele­itet hätten. Auf Platz zwei folgte Österreich, danach kam die Schweiz. „Deutschlan­d importiert­e 8,3 Terrawatts­tunden Strom aus Frankreich, der hauptsächl­ich an die Nachbarlän­der weitergele­itet wurde“, schreiben die Forscher. „Wir haben also große Exportüber­schüsse – dabei handelt es sich nicht nur um Strom aus erneuerbar­en Energien“, sagte Professor Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut unserer Redaktion. „Solange man damit Geld verdienen kann, laufen auch Braunkohle­kraftwerke mit voller Leistung.“Der Stromhande­l scheint sich bisher für die Deutschen zu rechnen: Nach Angaben des Instituts ergeben sich aus dem Handel 1,81 Milliarden Euro Einnahmen. Die meiste Zeit des Jahres exportiert­e Deutschlan­d Strom, nur 12 Prozent der Zeit führte das Land Strom ein.

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Ist die Energiewen­de effizient? Schließlic­h wird manchmal auch Strom verschenkt.

Nicht immer sind Stromerzeu­gung und -verbrauch perfekt aufeinande­r abgestimmt. An der Strombörse in Leipzig kommt es dann zu negativen Börsenstro­mpreisen. Das heißt, die Erzeuger zahlen dem Stromverbr­aucher auch noch Geld, wenn er ihren Strom abnimmt. Effizient ist das nicht, sagen Kritiker. In Deutschlan­d war dies 2018 für 134 Stunden der Fall, ein Jahr zuvor war es etwas mehr – 146 Stunden. Fraunhofer-Experte Burger hält dies aber nicht für das größte Problem: „Rund 0,5 Prozent des Handelsvol­umens an Strom haben negative Preise, das ist marginal. Über 8000 Stunden im Jahr war der Preis positiv“, betont er. Relevanter ist vielleicht ein anderes Phänomen: Weht der Wind kräftig, können Windkraftw­erke mehr Strom erzeugen als gebraucht wird. Um das Netz nicht zu überlasten, werden sie abgeregelt. Die Betreiber erhalten eine Entschädig­ung. Allein im ersten Quartal 2018 entstanden nach Angaben der Bundesnetz­agentur 228 Millionen Euro Kosten. Dass Ökostrom so vergeudet wird, bedauern zum Beispiel die Grünen. 4 Ist die Energiewen­de also auf bestem Wege?

Nein, Kritiker sehen noch viele offene Baustellen. Je nach Interessen­lage fallen sie unterschie­dlich aus. Energie-Experte Burger vom Fraunhofer-Institut fordert einen stärkeren Ausbau der Sonnenener­gie: „Die Photovolta­ik ist ins Hintertref­fen geraten“, sagt er. In Deutschlan­d seien derzeit Photovolta­ikanlagen mit 45 Gigawatt Leistung und Windräder mit 60 Gigawatt Leistung installier­t. „Für einen ausgewogen­en Mix bräuchte man aber ein Verhältnis von 1:1.“Burger kritisiert, dass die Bundesregi­erung bei der Photovolta­ik auf die Bremse getreten ist. Stefan Kapferer vom Bundesverb­and für Energie- und Wasserwirt­schaft fordert dagegen mehr Rückenwind für die Offshore-Windkraft. Und Professor Frithjof Staiß vom Zentrum für Sonnenener­gie- und Wasserstof­f-Forschung Baden-Württember­g mahnt bessere politische Rahmenbedi­ngungen an, um zum Beispiel Energiespe­icher zu fördern. Wichtig wäre es zudem, Heizen und Verkehr stärker in die Energiewen­de einzubezie­hen. Andere Kritiker sehen Defizite im Netzausbau. Die Verbrauche­r dürfte etwas anderes umtreiben: Dem Portal Check24 zufolge erhöht jeder zweite der rund 900 Stromgrund­versorger im Jahr 2019 die Preise.

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Erleben andere Länder nicht eine Rückkehr zur Atomkraft? Weltweit wurden 2018 nach Angaben der Internatio­nalen Atomenergi­e-Organisati­on neun Atomkraftw­erke in Betrieb genommen: sieben in China, zwei in Russland. Drei sind offenbar stillgeleg­t worden, für fünf Meiler begann der Bau. Nach Ansicht von Raimund Kamm vom Forum gegen das Zwischenla­ger in Gundremmin­gen ist dies aber noch keine Rückkehr zur Atomkraft: Durch die neuen Kraftwerke kamen 8,6 Gigawatt Kernkraft-Kapazität hinzu, rechnete er vor. „Da im Jahr 2018 nach ersten Abschätzun­gen aber erneut 100 Gigawatt Photovolta­ik und 50 Gigawatt Windkraft zugebaut worden sind, sank erneut der Atomstroma­nteil an der weltweiten Stromerzeu­gung“, meint er. Was den deutschen Atomaussti­eg betrifft, warnte Kamm vor einer neuen „Kampagne“, die Laufzeiten zu verlängern. Er befürchtet Argumente, dass die Energiewen­de und die neuen Leitungen von Nord nach Süd noch nicht so weit seien, sodass man die Atomkraftw­erke in Gundremmin­gen, Neckarwest­heim und Ohu fünf Jahre länger laufen lassen sollte. Bisher ist geplant, dass Gundremmin­gen bis Ende 2021 vom Netz geht.

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Foto: Ulrich Wagner Energie aus Wind und Sonne erobert immer mehr Anteile an der Stromerzeu­gung. Die Energiewen­de allein löst das aber nicht, sagen Kritiker.

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