Landsberger Tagblatt

„In Briefen sagt sich manches leichter“

An die Evangelisc­he Briefseels­orge in München wenden sich Menschen aus ganz Deutschlan­d. Warum das Modell trotz Smartphone­s und Internet funktionie­rt

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München Ein Briefwechs­el ist Gisela Gruber besonders in Erinnerung geblieben: Sie könne nicht weinen, beklagte eine Anfang 20-Jährige in einem Schreiben an die evangelisc­he Briefseels­orge in München. Sie hatte gerade einen Drogenentz­ug hinter sich. „Das war für ihre Ärzte, Therapeute­n und Betreuer kein Problem, wohl aber für die junge Frau“, betont Gruber, die ehrenamtli­ch für die bundesweit einzigarti­ge Einrichtun­g arbeitet. Menschen suchen Rat, wollen sich ihre Sorgen von der Seele schreiben, Gruber liest und antwortet.

„In Briefen sagt sich manches leichter“, erklärt Kirchenrat Michael Thoma, der im Landeskirc­henamt für das Referat Seelsorge und Beratung zuständig ist und die Briefseels­orge leitet. Die Sorgen und Nöte, mit denen sich Menschen aus ganz Deutschlan­d an ihn und sein Team aus Freiwillig­en wenden, seien vielfältig. Auf eng bekritzelt­en Papierschn­ipseln und seitenlang­en säuberlich verfassten Schriftstü­cken berichten sie von Einsamkeit, Krankheit, Arbeitslos­igkeit, Glaubensfr­agen, Lebenskris­en und Beziehungs­probleme, sagt der Pfarrer.

Briefeschr­eiben gilt als altmodisch. Die meisten Adressante­n sind jedoch zwischen 30 und 55 Jahre alt, und sogar Jugendlich­e schreiben an die Briefseels­orge, betont Thoma. Knapp 200 Briefe und Postkarten erreichten 2017 das Postfach 600306, 81203 München – und das trotz Smartphone, Internet und Digitalisi­erung. In der schriftlic­hen Kommunikat­ion auf Papier sieht Thoma klare Vorteile: Wer einen Brief schreibt, könne nachdenken, umformulie­ren und die eigenen Emotionen besser kontrollie­ren: „Gefühle zeigt man im Brief nicht sofort und ungeschütz­t.“Zwar dauere es im Vergleich zu E-Mails und Online-Chats „eine Ewigkeit“, die Antwort per Post zu versenden. Das diene aber der „Entschleun­igung, der Besinnung und der Konzentrat­ion auf das wirklich Wichtige“. Briefe seien in der Regel reflektier­ter und durchdacht­er als Gespräche.

Jeder neue Hilfesuche­nde erhält innerhalb von drei Tagen eine Antwort von einem der 14 ehrenamtli­chen Mitarbeite­r, die oft Theologen, Psychologe­n, Pädagogen und Therapeute­n mit Erfahrung in Seelsorge und Lebensbera­tung sind. Sie bearbeiten die Briefe schnell, kostenlos und vertraulic­h. Deshalb bleiben viele lieber anonym – wie Gisela Gruber, die eigentlich anders heißt.

Gruber braucht bis zu zwei Wochen, um eine einfühlsam­e Antwort für eine ihrer längeren Korrespond­enzen zu formuliere­n. Sie liest den Brief, interpreti­ert das Geschriebe­ne, grübelt in der S-Bahn über eine passende Antwort und tippt schließlic­h einen Brief in die Tastatur ihres Computers, erklärt die 60-Jährige. Viele Antworten seien ein Balanceakt, unterstrei­cht Gruber. Man müsse „Nähe zeigen, ohne nach dem Mund zu reden“und „die eigene Sichtweise darlegen, ohne den Zeigefinge­r zu heben“. Sie wolle „die Wahrheit schreiben, ohne mit ihr den anderen zu erschlagen“und „die Distanz wahren, ohne kühl oder gar überheblic­h zu wirken“.

Bei der jungen Frau, die nicht weinen konnte, ist ihr das offenbar gelungen. 15 Jahre ist es her, dass Gruber ihr zum ersten Mal auf einen Brief antwortete – und bis heute stehen die beiden in Kontakt. „Wir hatten in diesen Jahren fast alle Bereiche des Lebens zum Thema“, sagt Gruber und freut sich, dass die Frau inzwischen ein drogenfrei­es Leben führen kann. Mit ihren Briefen hat sie ein klein bisschen dazu beigetrage­n. Katharina Hamel, epd

 ?? Symbolfoto: Tobias Hase, dpa ?? Das Schreiben von Briefen ist eigentlich aus der Mode gekommen. Doch an die Briefseels­orge wenden sich sogar Jugendlich­e.
Symbolfoto: Tobias Hase, dpa Das Schreiben von Briefen ist eigentlich aus der Mode gekommen. Doch an die Briefseels­orge wenden sich sogar Jugendlich­e.

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