Landsberger Tagblatt

Für einen Tag Bergretter am Arlberg

Wie Winterspor­tler mit ein bisschen Übung zu Lebensrett­ern werden – und was es mit der Attacke der Fischmäule­r auf sich hat

- Von Verena Mörzl

Es geht es nicht um Fische, wenn Christoph Mitterer von der Attacke der Fischmäule­r spricht. Der geborene Münchner ist passionier­ter Winterspor­tler und erforscht den Schnee. Er arbeitete bereits als Lawinenkom­missionsmi­tglied im Ammertal und beim Lawinenwar­ndienst Bayern. Zurzeit koordinier­t er ein interregio­nales Projekt beim Tiroler Lawinenwar­ndienst. Wenn er also von der Attacke der Fischmäule­r spricht, meint er Gleitschne­elawinen – eine der gefürchtet­sten weißen Gefahren. Und weil sie oftmals aus der Ferne zu erkennen sind und einem riesigen Fischmaul ähneln, das aufgeht, wenn sich die Lawine donnernd ins Tal stürzt, verwendet er das einprägsam­e Sprachbild. Je mehr Leute sich das merken, desto besser. Diese Lawinenart ist nicht die einzige Gefahr in den Bergen, die man sieht, wenn man erst einmal weiß, wonach man suchen muss. Auch das lernt man, als Bergretter für einen Tag

Mitterer spricht in Zürs am Arlberg auf der Snow- and Safety-Conference und wird in seinem Vortrag noch auf die Eigenheite­n der Gleitschne­elawine eingehen, bei der die gesamte Schneedeck­e weggerisse­n wird. „Unberechen­bar“, sagt er über die Gewalt dieser Lawine. Seit inzwischen sieben Jahren genießen Winterspor­tler zum Saisonauft­akt am Arlberg nicht nur ein bezaubernd­es Skigebiet, sie lernen auch, wie sich das Risiko im Schnee minimieren lässt oder wie sie im schlimmste­n Fall eben selbst zum Bergretter werden. Ein bisschen wissenscha­ftlicher Hintergrun­d soll nicht schaden. Doch noch spannender sind die Rettungsei­nheiten im Schnee.

Denn während abends drinnen gesprochen wird, wird tagsüber das Notfallsze­nario draußen trainiert. Auf einem Hang abseits der Piste ist der Schnee zu großen Brocken zusammenge­presst. Eine Trainingsg­ruppe aus Snowboarde­rn und Skifahrern steht vor der präpariert­en Test-Lawine. Was man bereits weiß: Es wurden mehrere Men- verschütte­t, nicht alle sind mit einem Lawinenver­schütteten­suchgerät (LVS) ausgestatt­et. Die Sicht ist schlecht, es beginnt zu schneien. Stefan Rössler ist österreich­ischer Bergführer­ausbilder und will, dass sich der Rettungstr­upp organisier­t. Die größte Überlebens­wahrschein­lichkeit haben ihm zufolge die verschütte­ten Personen, die ein LVS tragen. Wer ohne unterwegs ist, wird schwer zu finden sein. Die Überlebens­wahrschein­lichkeit beträgt in den ersten 18 Minuten noch 90 Prozent. Rössler erinnert: „Ein Lawinenunf­all ist nichts anderes, als zu ertrinken.“Die Zeit läuft. Der Puls rast, trotz Simulation mit Dummies.

Einer der Helfer hat bereits die Bergrettun­g verständig­t, es wird allerdings noch dauern, bis sie vor Ort ist. Die Retter schalten das LVSGerät ein und folgen der abnehmende­n Zahl auf dem Display. Denn wenn sie in Gehrichtun­g kleiner wird, nähert man sich einem Verschütte­ten. Je weiter die Zahl sinkt, desto wichtiger ist es, den Sinkflug eines Flugzeugs zu imitieren, das Gerät also langsam Richtung Boden zu führen. Je näher die Retter an den Lawinenopf­ern sind, desto weniger muss in der Regel gegraben werden. Vorarbeit spart Zeit. Der Sender ist erreicht, sobald das Signal so klein wie möglich ist und in alle Richtungen wieder zunehmen würde. Das muss ein Treffer sein.

Jetzt kommt die Sonde zum Einsatz. Der zweite Stich in den Schnee verspricht, ein Lawinen-Opfer gefunden zu haben. Das Ende der Sonde stößt auf einen weichen Widerstand, der ein Körperteil sein könnte. Also sind die Schaufler dran. Diese Retter sollen kein Loch buddeln, sondern eine Art Rampe. „Sonst bekommt man da niemals einen Menschen raus“, sagt Rössler. Die Schaufler graben und graben, bis eine orange Jacke im weißen Schnee sichtbar wird. Die Gruppe mit dem LVS-Gerät sucht bereits nach dem nächsten. Nach fünf Minuten schaufeln wieder einige Helfer wie verrückt den Schnee beiseite. Gut 20 Minuten dauert die Rettungsak­tion schon. Neben dem Sauschen erstoffman­gel wird irgendwann auch die Kälte zur Gefahr.

Inzwischen sind drei Personen gerettet. Neben den zwei verschütte­ten wurde ein Winterspor­tler mit Airbag-Rucksack nicht unter die Lawine gezogen. Das LVS-Gerät meldet keine Zeichen mehr unter dem Schnee. Die Gruppe atmet durch, da gibt Bergführer­ausbilder Rössler eine weitere Info: Es sind noch zwei Menschen verschütte­t. Wie geht es jetzt weiter?

Bis die Bergrettun­g eintrifft, bildet die Gruppe eine Sondierket­te. Männer und Frauen stellen sich Schulter an Schulter auf und bewegen sich Schritt für Schritt auf das Kommando des Österreich­ers vorwärts: „Schritt, Stich, Schritt, Stich“, befiehlt er. Die Überlebens­chancen schwinden weiter. Und dennoch gilt es, einen weiteren wichtigen Hinweis zu beachten: „Man muss auch acht geben, dass man auf sich selber aufpasst und sich selber nicht vergisst!“

Ein Retter der Gruppe stößt mit einer Sonde im zusammenge­pressten Schnee auf einen weichen Untergrund in einem Hohlraum. Die anderen Helfer sondieren ringförmig um den möglichen Gefundenen. Die Bergrettun­g ist inzwischen eingetroff­en und sucht mit einem Recco-Detektor nach den Verschütte­ten ohne LVS. Nach denjenigen mit eingenähte­r Lebensrett­ungsfunkti­on auf Jacke und Hose. Auf Knien im Schnee wird klar: Jeder kann sein eigenes Risiko so klein wie möglich halten. Auch mit der richtigen Ausrüstung. Die Dummies in der Testlawine hatten „Glück“. So läuft es in der Realität aber nicht immer.

„Man muss schon völlig klar wissen, dass man das Risiko nie komplett ausblenden kann, wenn man in den Schnee geht“, sagt Rössler am Rande der Bergretter­mission. Das weiß auch der Geschäftsf­ührer der Lech Zürs Tourismus GmbH, Hermann Fercher. Er sagt aber auch, dass die Tourismusr­egion Lech Zürs als Tiefschnee-Mekka gilt. Lech selbst hat bereits große Namen in der Powder-Szene hervorgebr­acht: Freeride-Weltmeiste­rin Lorraine Huber zum Beispiel. Das finnische Talent Mikaela Hollsten wohnt am Arlberg, um regelmäßig im Tiefschnee für diesen Titel zu trainieren. Und weil das Risiko am Berg stets mitfährt, sollen die Winterspor­tler den Berg lesen können.

Ein weiterer Lawinen-Experte bei der Snow- and Safety-Conference ist der Österreich­er Rudi Mair. Eine Koryphäe und im Einsatz für eine neue, grenzübers­chreitende Lawinenvor­hersage. Denn, so sagt Mair: „Lawinen und Schnee scheren sich nicht um Ländergren­zen.“Und doch waren die Lawinenber­ichte bislang auf Länder beschränkt. Heute sind nach seinen Erkenntnis­sen zehnmal mehr Menschen in den Bergen unterwegs als noch vor 20 Jahren. Und trotzdem bleibt die Zahl der Lawinentot­en auf dem Niveau von früher. Mair führt die Entwicklun­g auf die besser werdenden Lawinenfrü­hwarnsyste­me zurück. Bergführer, Hüttenwirt­e oder Winterspor­tler liefern Schneeprof­ile, durch die bessere Vorhersage­n getroffen werden können. Außerdem klären die Experten auf, wie man sich in den verschiede­nen Arten von Schnee, die verschiede­ne Lawinen auslösen, verhalten soll.

Bei der Gefahr von NeuschneeL­awinen: besser abwarten, nicht in den Schnee. Bei Triebschne­e, den der Wind verlagert, ausweichen – genau wie bei Altschnee. Nassschnee lässt sich mit einer Zeiteintei­lung händeln, sagt Mair und bei der Gefahr von Gleitschne­elawinen?

Da kann Christoph Mitterer aushelfen, Sie wissen schon, der mit den Fischmäule­rn. Er hat abschließe­nd noch einen Tipp: „Keine Jausn im Umkreis des Fischmauls.“Was zunächst völlig harmlos aussieht, kann sich zur unberechen­baren Gefahr entwickeln. Je mehr Wissen also aus der Nivologie, der Wissenscha­ft über den Schnee und über das Verhalten von Lawinen, vorhanden ist, desto kleiner wird das Risiko. Die Erkenntnis des Lehrgangs: Spricht alles gegen einen entspannte­n Tag am Berg – Lawinenber­icht, Wettervorh­ersage, Bauchgefüh­l –, ist Daheimblei­ben auch eine Lösung.

 ?? Fotos: Verena Mörzl ?? Die Region Lech Zürs am Arlberg ist ein Freeride-Paradies. Der Tourismusv­erband veranstalt­et Lehrgänge, in denen das Schlimmste geübt werden muss: die Bergung von Menschen in einer Lawine. Die Überlebens­chancen steigen, wenn Winterspor­tler ein Lawinenver­schütteten­suchgerät (rechts oben) bedienen können. Schlägt das an, wird sondiert und mit einer Schaufel gegraben (rechts unten). Im Bild links unten leitet Bergführer­ausbilder Stefan Rössler die Sondierket­te an.
Fotos: Verena Mörzl Die Region Lech Zürs am Arlberg ist ein Freeride-Paradies. Der Tourismusv­erband veranstalt­et Lehrgänge, in denen das Schlimmste geübt werden muss: die Bergung von Menschen in einer Lawine. Die Überlebens­chancen steigen, wenn Winterspor­tler ein Lawinenver­schütteten­suchgerät (rechts oben) bedienen können. Schlägt das an, wird sondiert und mit einer Schaufel gegraben (rechts unten). Im Bild links unten leitet Bergführer­ausbilder Stefan Rössler die Sondierket­te an.
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