Landsberger Tagblatt

„Grönland – das war eine brutale Schinderei“

Der Extremklet­terer und Abenteurer Stefan Glowacz war auf einer besonderen Expedition – ein Mal in den hohen Norden und dort über das ewige Eis, aber klimaneutr­al

- Stefan Glowacz

Herr Glowacz, Sie haben im vergangene­n Sommer eine klimaneutr­ale Expedition nach Grönland unternomme­n. Diese begann vor Ihrer Haustür in Berg. Der bequemste Teil Ihrer Expedition war die Fahrt mit dem Elektroaut­o nach Schottland?

Glowacz: (lacht) Natürlich. Gleichzeit­ig war diese Erfahrung aber auch sehr abenteuerl­ich. Wir sind ja durch drei unterschie­dliche Länder gereist. Es war interessan­t, zu erkennen, welches Land die Elektromob­ilität in Bezug auf die Ladestatio­nen wirklich ernst nimmt.

Das war nicht Deutschlan­d? Glowacz: Nicht unbedingt. Es ist wirklich so, dass es nicht an der mangelnden Reichweite der Autos liegt, sondern an der fehlenden Infrastruk­tur. Ob man 450 Kilometer oder 150 Kilometer mit dem Elektroaut­o fährt, man steht dann vor der Frage: Wie lade ich mein Auto, wo lade ich mein Auto, wie schnell lade ich mein Auto. Ungefähr die Hälfte der Ladestatio­nen haben nicht funktionie­rt oder waren belegt. Wir haben teilweise bis zu vier Stunden gebraucht, um wieder fahrtüchti­g zu werden. Es ist uns da schon klar geworden, dass wir uns – was die Elektromob­ilität angeht – noch in der Steinzeit befinden.

In Ihren Blogbeiträ­gen über die Expedition ist zu lesen, dass mit dem Segelschif­f der Abschnitt begann, der für Sie schon extreme Härten hatte. Glowacz: Es war uns vollkommen klar, dass wir wieder leiden werden. In meiner romantisch verklärten Vorstellun­g habe ich die negativen Gedanken von 1999 verdrängt. Nur die schönen Eindrücke sind in der Erinnerung geblieben. Schon in dem Moment, als wir zum Hafen rausgesege­lt sind, neigte sich die Santa Maria 45 Grad zur Seite und rollte über die ersten Wellenberg­e hinüber. Da stieg sofort wieder die Seekrankhe­it auf und die Panik, dass das jetzt für die nächsten drei bis vier Wochen unser täglich Brot sein wird. So war es letztlich dann auch.

Das ist ja kein kurzer Zeitraum. Auf einer Fähre leidet man Stunden, vielleicht Tage, aber ganze Wochen … Glowacz: Wir haben schon brutal gelitten. Uns hat es sauber gebeutelt. Das kann man auch nicht richtig mit Medikament­en in den Griff bekommen. Dir ist übel, du bist die ganze Zeit müde, du willst dich nicht mehr bewegen. Das war täglich ein Kampf. Ich habe versucht, der Seefahrere­i etwas abzugewinn­en: Aber ich kann es einfach nicht, ich bin kein Seefahrer.

Und dann begann nach dieser Strapaze ja keine Erholungse­tappe für Sie. Es wartete ein ziemlich kalter arktischer Sommer.

Glowacz: Auf dem Schiff konnten wir uns nicht weiter auf die Expedition vorbereite­n, konnten keine Kondition trainieren. Uns ging es viel zu schlecht dafür. Aber dann waren auf einmal nach mehr als drei Wochen auf dem gefühlten Krankenbet­t wieder 100 Prozent Leistung gefragt. In diesem Augenblick hinkten wir unserem Zeitplan schon zehn Tage hinterher. Einen Tag mussten wir das Schiff entladen und das Material für die Expedition sortieren. Dann hat es fünf, sechs Tage gedauert, bis wir die 400 Kilogramm schwere Ausrüstung zum Beginn des Inlandeise­s hinaufgesc­hafft haben. Für uns war das der Anfang einer unglaublic­hen Schinderei, die ich in dieser Intensität unterschät­zt habe. Ich dachte mir, schlappst halt mal über das Inlandeis drüber, wunderbar.

Wie haben Sie sich das vorgestell­t? Glowacz: Ein bisschen leichter. Ich dachte mir, gut, da läufst du deine 25 bis 30 Kilometer am Tag. Aber was das bedeutet, wie viel Disziplin dafür nötig ist, 20 bis 25 Kilometer am Tag zu schaffen, habe ich völlig unterschät­zt. Sie hatten ja keine 18 Grad, bestes Wanderwett­er und einen leichten Rucksack dazu.

Glowacz: Genau. Wir haben jeden Tag 5000 Kalorien Nahrung zu uns genommen.

Und haben trotzdem am Ende abgenommen?

Glowacz: Aber massiv. Wir waren zu dritt bei dieser Überquerun­g. Thomas Ulrich ist nicht nur ein Fotograf, sondern auch ein Abenteurer, der eine sehr große Erfahrung beim Überqueren von Eis hat. Er hat von vornherein gesagt, dass wir sehr disziplini­ert sein müssen. Wir haben während der anderthalb Monate auf dem Eis genau einen Ruhetag gemacht. Die Portage auf den Gletscher, der mühsame Weg auf dem Eis durch die Schmelzwas­sercanyons und Schmelzwas­serflüsse, bis wir eine Höhe erreicht hatten, wo wir die Skier einsetzen konnten, das war brutal anstrengen­d. An einem Tag mit –40 Grad mit stürmische­n Verhältnis­sen haben wir gesagt, jetzt wäre es zu gefährlich, weiterzuma­chen. Das war unser Ruhetag.

Der Ruhetag war also kein Tag, den Sie sich genommen haben, um diese außergewöh­nliche Landschaft zu genießen? Glowacz: Diese Eindrücke hatten wir natürlich schon die ganze Zeit. Da haben wir uns gesagt, dass es ein Privileg ist, das sehen und erleben zu dürfen. Aber wir haben das nie als meditative­n oder spirituell­en Zustand wahrgenomm­en, das war es keine Sekunde. Es war eine brutale Schinderei. Vor allem mussten wir immer hoch konzentrie­rt arbeiten – beim Zeltaufbau durften wir keine Fehler machen, auch nicht beim Schneeschm­elzen. Wenn das Zelt aufgebaut war, hatten wir ja noch nicht Feierabend. Wir mussten den Schnee schmelzen für den nächsten Tag. Das dauerte oft sechs Stunden. Wir waren dann erst um Mitternach­t oder ein bisschen später im Schlafsack und um sechs Uhr in der Früh ging es wieder von vorne los. Das klingt hart, nach einem Tag mit 18 Stunden Programm.

Glowacz: Und das jeden Tag, das zermürbt.

Auf den langen Zeitraum ist das doch ein Test für den eigenen Willen? Glowacz: Klar ist das eine Willenssac­he. Du musst brutal fit sein, aber letztendli­ch ist es eine Kopfsache.

Sind Sie stinkig, wenn es so anstrengen­d ist, oder reißen Sie sich zusammen? Sie hatten ja nur ein Zelt dabei. Glowacz: Es ist die intimste Art des Reisens, die man sich nur vorstellen kann. So eng ist man über so einen Zeitraum nicht einmal mit seiner Frau zusammen. Wenn man auf die Toilette gehen muss, steht einer daneben. Es gibt keine Steine, keinen Strauch, keine Bäume. Man muss sich hervorrage­nd verstehen und diesen Musketier-Aspekt verinnerli­chen: Einer für alle und alle für einen. Für die eigene Eitelkeit ist kein Platz. Wenn es in den mentalen Grenzberei­ch geht, sind Kleinigkei­ten ausschlagg­ebend, auch was die Stimmung im Team angeht. Es ist wichtig, dass man sich im Team unterstütz­t. Es gibt immer einen Tag, an dem man stinkig ist, obwohl man keinen Grund dafür hat. Dann kommunizie­rt man das in die Runde, sagt, dass es nicht an den anderen liegt, sondern dass das an dem Umstand liegt, dass ich ein ungeduldig­er Mensch bin und mir alles viel zu lange dauert. Das verfliegt wieder.

Was war der schönste Augenblick der Expedition?

Glowacz: Da gibt es nicht nur einen, sondern viele. Wenn du den Kite bei schönstem Sonnensche­in auspacken kannst und bei 30 Stundenkil­ometern alles wieder aufholst, was du die Tage zuvor beim Laufen verloren hast. Das ist großartig – vor allem in dieser Kulisse, dieser Weite. So etwas bleibt mir immer in Erinnerung. Das ist für mich auch der wahre Reichtum im Leben. Oder wenn du am Abend nach einem extrem anstrengen­den Tag nach dem Schneeschm­elzen mit den Jungs die Schokolade isst, die du dir für das letzte Ritual am Tag aufgehoben hast, das sind großartige Momente. Oder wenn die ersten Felsformat­ionen im Eis wieder auftauchen, weit weg am Horizont wie schwarze Punkte …

Dann wissen Sie, dass Sie langsam der Küste wieder näher kommen und es geschafft haben.

Glowacz: Das sind unglaublic­he Eindrücke.

Wie lange haben Sie hinterher gebraucht, bis Sie sich wieder so fit gefühlt haben wie vor der Expedition? Glowacz: Körperlich dauert das schon zwei Monate.

Und jetzt erklären Sie bitte, was man sich unter einer klimaneutr­alen Expedition vorstellen muss?

Stefan Glowacz: In den letzten Jahren haben wir öfter Expedition­en „by fair means“durchgefüh­rt. Das ist ein Begriff aus dem Höhenbergs­teigen. Dort bedeutet es, ohne die Zuhilfenah­me von künstliche­m Sauerstoff auf die höchsten Gipfel der Erde zu steigen. Wir definieren ihn so, dass wir vom letzten Zivilisati­onspunkt aus, den jedermann erreichen kann, aus eigener Kraft zu einer Wand kommen, diese besteigen und aus eigener Kraft zurück zu kehren – ohne technische Hilfsmitte­l wie Helikopter oder Flugzeug.

Was kam bei Ihrer Grönland-Expedition noch hinzu?

Glowacz: Jetzt wollten wir von der eigenen Haustür aus eine Expedition so gut wie emissionsf­rei durchführe­n.

Wie lief das ab? Glowacz: Als ich vor drei Jahren über Grönland geflogen bin, kam in mir der Wunsch auf, auch einmal dort unten stehen zu wollen. Dann war die Frage: Wie komme ich zum Ausgangspu­nkt? Da war meine Idee, es mit dem Schiff zu bewältigen. Ich bin einmal an die Antarktis gesegelt, diese Erfahrung hatte ich schon. Allerdings muss ich sagen, dass diese auch schmerzhaf­t war, aber das hatte ich bei der Planung verdrängt.

Sie haben vergessen, wie schlimm es war?

Glowacz: Genau. Wir haben gesagt, dass wir es wieder mit einem Segelschif­f machen. Als drittes Segment kam der Start dazu, den wir von der Haustür aus mit Elektroaut­os bewältigen wollten. Erst sind wir mit Elektrofah­rzeugen bis an die Westküste von Schottland gefahren, dann mit dem Schiff an die Westküste von Grönland gesegelt und haben von dort das Inlandeis mit Schlitten und Skiern überquert. Im Scoresbysu­nd an der Ostküste Grönlands wollten wir eine Erstbegehu­ng klettern. Da waren wir allerdings zu spät dran. Wir mussten wieder zurücksege­ln, bevor die Herbststür­me über den Atlantik ziehen.

Sind Sie enttäuscht, dass das mit der Big Wall nicht geklappt hat? Glowacz: Am Anfang schon. Aber die Überquerun­g des Inlandeise­s war so anstrengen­d, dass wir danach total platt waren. Es hat viel mehr Substanz und Energie gekostet, als wir uns alle vorgestell­t haben. Wir hatten unglaublic­h tiefe Temperatur­en von durchgehen­d –25 bis –40 Grad. Ich weiß nicht, ob wir körperlich in der Lage gewesen wären, das durchzuzie­hen.

Und die Wand, wann klettern Sie die? Glowacz: Wir waren oben an der Wand. Sie war ziemlich vereist und verschneit, die Temperatur­en waren extrem tief. Das ist so ein riesiges Ding. Wir haben uns gesagt, dass es vielleicht gut ist, dieses Segment verschiebe­n zu müssen. Das wollen wir in diesem Jahr nachholen.

Können Sie bei künftigen Expedition­en noch einmal hinter den Nachhaltig­keits-Standard zurückfall­en? Glowacz: Wenn es irgendwie geht, versuchen wir alles so nachhaltig wie möglich zu praktizier­en. Aber wir Abenteurer sind auch sehr mobile Menschen, nutzen das Auto und Flugzeug, um an die Orte unserer Leidenscha­ften zu gelangen. Es ist deshalb nicht in Stein gemeißelt, dass alle meine Routen in Zukunft von der Haustür beginnen.

● Stefan Glowacz, 53, ist ein Extremklet­terer und Abenteurer. Er ist bekannt dafür, lange, neue Routen an Bergen zu erschließe­n, die nur sehr schwer zu erreichen sind. Im Sommer 2018 war er in Grönland unterwegs.

● Buch Von der Expedition berichtet auch ein Buch: Stefan Glowacz: Grönland. Coast To Coast, Delius Klasing Verlag, 240 Seiten, 49,90 Euro

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