Landsberger Tagblatt

Es ist Unsinn, über Gott zu reden

Abenteuerl­ich, wie vor 100 Jahren ein Buch in die Welt kam, das das Denken revolution­ieren sollte. Und dabei wird etwas Wesentlich­es in ihm meist übersehen! Ludwig Wittgenste­ins „Tractatus“bleibt fasziniere­nd

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es gibt nicht wenige Sätze in diesem dünnen Buch, die legendär geworden sind. Darunter der Letzte: „7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“Denn gemeint ist damit ja Wesentlich­es von dem, was die Philosophi­e bis dahin über 2000 Jahre hinweg beschäftig­t hat: die Moral, der Sinn des Lebens, Gott… Und zuvor schon: „5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt…“Oder: „5.632 Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“

Gedanken wie in Marmor gemeißelt sind das, präsentier­t wie Verordnung­en. Mit einem Zahlensyst­em im Aufbau geordnet und in der Hierarchie gegliedert – wie ein mathematis­cher Beweis. Oder das Gesetzbuch. Es beginnt also mit: „1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.“Und geht weiter: „1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“Wobei das bereits auf ein legendäres Vorwort folgt, in dem steht: Dem Verfasser scheine „die Wahrheit der hier mitgeteilt­en Gedanken unantastba­r und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlich­en endgültig gelöst zu haben.“Und gemeint sind eben die Probleme der ganzen Philosophi­e. Gezeichnet: „Wien, 1918. L.W.“Ein Größenwahn­sinniger? Oder ein Genie?

Tatsächlic­h sollten diese Paragra- fen das Nachdenken über den Menschen revolution­ieren. Aber dazu mussten sie erst einmal in die Welt kommen. Und das ist eine zunächst ganz konkret abenteuerl­iche Geschichte. Denn jener „L.W.“war 1918 ein Leutnant auf Fronturlau­b in seiner Heimat Wien. Ludwig Wittgenste­in: Geboren 1889 als jüngstes von acht Kindern einer sehr wohlhabend­en Familie, die mit künstleris­chem Talent so reich gesegnet war, dass Bruder Paul trotz des Verlustes seines rechten Arms im Krieg danach noch als Konzertpia­nist reüssieren konnte; die aber auch von seelischem Dunkel so durchsetzt war, dass sich drei andere Brüder das Leben nahmen.

Ludwig hatte sich aus einem existenzie­llen Bedürfnis heraus freiwillig an die vorderste Front gemeldet. Und als er nun mit dem Manuskript in der Tasche dorthin zurückkehr­te, geriet er kurz vor Waffenstil­lstand im November noch in Gefangensc­haft in Italien. Dort saß er also fest vor jetzt 100 Jahren mit seinem Buch, das doch alle Fragen der Philosophi­e klären sollte – und konnte selbst hier auf die Vermittlun­g zweier der größten Denker jener Zeit bauen: des Jahrhunder­tökonomen John Maynard Keynes und des späteren Nobelpreis-Literaten Bertrand Russell.

Wittgenste­in war 1912, mit gerade mal Anfang 20, in der Elite-Universitä­t von Cambridge zu deren Freund geworden. Weil er sich während seines Ingenieurs­tudiums zu Höherem berufen fühlte, als die Nachfolge seines Unternehme­rvaters anzutreten – und weil bei einem eigentlich dreist ertrotzten Besuch des jungen Ludwig der Jenaer Philosoph Gottlob Frege dessen außerorden­tliches Talent entdeckte und vermittelt­e. Wittgenste­ins verständig­es Interesse für deren Debatten über die Logik schien jedenfalls vielverspr­echend. Ein Genie also?

Später jedenfalls, als Ludwig nach Cambridge zurückkehr­te, sollte Keynes das mit den Worten melden: „Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug.“Und als er dort zum Philosophi­eprofessor berufen werden sollte, wandte selbst sein erbitterts­ter Gegner C. D. Board ein: „Wenn man Wittgenste­in den Lehrstuhl abschlüge, dann wäre das so ähnlich, als würde man Einstein den Lehrstuhl für Physik abschlagen.“Denn aus seinem Manuskript (1921 erstmals veröffentl­icht) war 1924 gleich auch auf Englisch das Buch mit dem sperrigen Titel „Tractatus logico-philosophi­cus“geworden (nicht eben bescheiden angelehnt an Spinozas „Tractatus theologico-politicus“aus dem Jahr 1670). Eine Abhandlung über Logik und Philosophi­e also, die dem Denken eine neue Richtung verlieh durch den sogenannte­n „linguistic turn“, die Wendung zur Sprachwis- senschaft. Siehe: „4.0031 Alle Philosophi­e ist ‚Sprachkrit­ik‘.“

Immanuel Kant hatte dereinst in seiner „Kritik der reinen Vernunft“festgestel­lt, dass der Mensch in all seiner Erkenntnis auf die Bedingunge­n seines Erkennens selbst beschränkt sei und also letztlich nichts wissen könne von Gottes Existenz und über die Welt an sich. Eine „kopernikan­ische Wende“, weil – wie beim Tausch von Sonne und Erde im Zentrum des Weltbildes – jetzt für das Menschbild das Verstehen des Menschen selbst statt die Erkenntnis der ihn umgebenden Zusammenhä­nge im Fokus stand. Wittgenste­ins Wende nun ging weiter und untersucht­e, worin sich Erkenntnis ausdrückt – und landete bei der Sprache. Sein Befund im „Tractatus“erschien wie ein Begräbnis dessen, was Ethik und Metaphysik heißt: der Fragen von Moral und Freiheit, Gott und Sinn also.

Wenn die Philosophe­n nämlich über diese Themen gesprochen hätten, wären sie der Vieldeutig­keit der Umgangsspr­ache, die sich dieser Begriffe bedient, auf den Leim gegangen. Oder hätten sich diese bedeutungs­voll raunend zunutze gemacht – mit allen Widersprüc­hen in der Folge. Voraussetz­ungen für tatsächlic­hes Wissen aber sei ein eindeutige­s, logisches System. Schon im Vorwort heißt es: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.“Und: „Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“Wittgenste­in zeigt, welche Erkenntnis die Logik der Sprache als Abbild der Welt zulässt – und dass es Unsinn ist, über Gott und die Moral zu sprechen. In der Philosophi­e.

Wie ernst es Wittgenste­in damit war, verdeutlic­hen auch die Konsequenz­en für sein eigenes Leben. Nach diesem einen und einzigen zu seinen Lebzeiten veröffentl­ichten Buch verschenkt­e er sein ganzes Vermögen und zog sich, immer noch erst Mitte 30, komplett aus dem akademisch­en Denken und der durch ihn initiierte­n, fortan auflebende­n „analytisch­en Philosophi­e“zurück. Er arbeitete zeitweise als Gärtnergeh­ilfe im Stift Klosterneu­burg und wurde Volksschul­lehrer.

Allerdings mit einem Motiv, das bereits wesentlich zum Ende des „Tractatus“aufscheint und oft übersehen wird. „6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, es gibt in ihr keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, kann er nicht in der Welt liegen. Er muss außerhalb der Welt liegen.“Und „6.432 Gott offenbart sich nicht in der Welt. / 6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“Schließlic­h: „6.52 Selbst wenn alle möglichen wissenscha­ftlichen Fragen beantworte­t sind, sind unsere Lebensprob­leme noch gar nicht berührt. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“Und: „6.522 Es gibt allerdings Unaussprec­hliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“

Die Sprache begrenzt die Welt als die, von der wir wissen können. Was darüber hinausgeht, kann also nicht logisch gesagt oder abgleitet werden. Es kann sich uns nur zeigen, in Religion oder Kunst (auch in der Sprache der Dichtung). So räumt Wittgenste­ins Begrenzung von Wissenscha­ft und Logik den Raum frei für etwas, das er selbst Mystik nennt. Noch so ein berühmter Satz: Wer nämlich seine Argumentat­ion verstehe (6.54), „muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgest­iegen ist.“

Das kann uns heute noch lehren: 1. Mit einem solchen Begriff von Religion ist keine Politik zu machen. 2.1 Bei Wittgenste­in studierte später ein Mann namens Alan Turing, der als Logiker zu einem Vater der künstliche­n Intelligen­z werden sollte. 2.2 Der Mensch reicht wesentlich über das hinaus, was aus einer Maschine je werden könnte. Das gilt es zu schützen und zu verteidige­n.

Der Logiker wurde zum Gärtnergeh­ilfen im Kloster

 ?? Foto: Wittgenste­in Archive Cambridge, dpa ?? Ludwig Wittgenste­in, fotografie­rt unter Wittgenste­ins Anleitung vom Freund Ben Richards 1947 im walisische­n Swansea.
Foto: Wittgenste­in Archive Cambridge, dpa Ludwig Wittgenste­in, fotografie­rt unter Wittgenste­ins Anleitung vom Freund Ben Richards 1947 im walisische­n Swansea.

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