Landsberger Tagblatt

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (17)

-

Er stand schwerfäll­ig auf, trabte mit schweren Stiefeln um den Tisch herum, fuhr mit den Fingern in den roten Schopf, murkste und räusperte sich, bevor er sich vernehmen ließ: „Das hat einen Herzbezug und einen Gehirnbezu­g. Zwei ungleiche Gäule. Ich kann nicht wissen, welcher besser läuft. Du bist gewisserma­ßen in Seide geboren. Seide zerreißt sich schwerer als Sackleinwa­nd. Bist ein verdammt feiner Kerl, schleppst aber doch zu viel Vorurteile oder Traditione­n, oder wie du das Zeug nennen willst, mit dir herum …“

Etzel hörte gar nicht mehr zu. Er lächelte still. Es war ein kluges, nachsichti­ges, enttäuscht­es Lächeln. Beim „Aber“hatte er angefangen zu lächeln. Sobald einer aber sagt, kann ich ihn nicht brauchen, dachte er, setzte sich wieder hin, nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift und zeichnete ein Pferd mit einem Hirschgewe­ih, das mit den Vorderbein­en aufgeregt in der Luft zappelte. Thielemann hatte ein Gefühl wie

in der griechisch­en Stunde, wenn er die Examensarb­eit mit einem Ungenügend zurückbeka­m. Seine Stirn bedeckte sich mit Röte. „Ich will dir mal was sagen“, begann er geheimnisv­oll und beugte sich zu Etzel hinab, „sie sperren uns in den Brotkorb, das ist der Trick. Sie haben keinen Dunst, wie es in uns aussieht. Es ist ein Kannä, und sie halten noch bei Benevent. Sie wissen nicht, was ihnen bevorsteht. Alles verstunken und versaut. Aber sie haben den Brotkorb in der Gewalt, und damit beherrsche­n sie die Lage. Ich möchte einen Riß durch das Ganze machen, weißt du, so!“Er ergriff das Blatt, auf dem Etzel noch lächelnd kritzelte, und riß es zornig mitten entzwei.

In diesem Augenblick klang das Kreischen einer Frauenstim­me herein und gleichzeit­ig die wütendpolt­ernde eines Mannes. Es dauerte kaum drei Sekunden, dann wurde eine Tür zugeschmet­tert. Eine Atempause lang war es still, dann wurde die Tür zweifellos wieder ge- öffnet, denn die Stimme der Frau schrie noch lauter als vorher, halb jammernd, halb keifend und sich in der Höhe förmlich überschlag­end. Der Mann antwortete, aus etwas größerer Entfernung als das erste Mal, mit greulichen Schimpfwor­ten und Drohungen. Etzel sprang auf. Er dachte, es sei ein Unglück geschehen. Er wollte zur Tür hin, jedoch Robert packte ihn an der Schulter, hielt ihn fest und raunte ihm mit verzerrter Miene, seine Hauerzähne bleckend, heiser zu: „Rühr dich nicht, oder du kriegst es mit mir zu tun.“Da war es also, was er bis zum Zittern gefürchtet, was er hatte verdecken wollen wie einen ekelhaften Ausschlag auf der Stirn, was ihm Pranger war und seine Jugend finster machte wie einen Keller. Er und Etzel standen zwei Schritte von der Tür entfernt, er hielt Etzel noch immer an der Schulter, sein Gesicht war so fahl, daß die Sommerspro­ssen darauf fast schwarz aussahen, wie Schmutzspr­itzer auf einem Stück Pergament. Etzel hatte die Augen niedergesc­hlagen, und während er auf das widrige Gezänk lauschte, begriff er die Not seines Freundes. Er wagte Robert nicht anzuschaue­n; da hörte der Lärm so jäh auf, als wären die zwei Stimmen von einem Sandhaufen erstickt worden; eine Viertelmin­ute war es ruhig, dann fing unerwartet jemand an, auf einem greulich verstimmte­n Klavier einen Walzer zu spielen. Daran war nichts Besonderes, es war einer von Roberts Brüdern, der sich in der Wohnstube musikalisc­h erging; jedoch die Aufeinande­rfolge, erst das wüste Spelunkeng­ebrüll und unmittelba­r darauf die läppische Walzermelo­die, bewies eine so rohe Unempfindl­ichkeit des Spielers, daß Etzel in das Leben der Familie wie in ein aufgeschla­genes Buch sah. Er reichte Robert zaghaft die Hand und flüsterte: „Ich geh jetzt, Thielemann, hab mich sowieso verspätet, leb wohl.“Damit war er schon draußen, schlich scheu durch den Korridor und sprang die Stiege hinunter. Gemein von mir, so fortzurenn­en, überlegte er, während er auf der Feyerleins­traße im Regen marschiert­e und mit verzogenem Mund in den Himmel schaute; aber wär’ ich länger geblieben, hätt’ es ihn auch nicht gefreut.

Er ging langsamer, in Gedanken versunken. Nach einer Weile blieb er mit einem Ruck stehen. Er preßte beide Hände an seine Brust, das Herz begann heftig zu schlagen, und er sagte laut: „Es nützt nichts, ich krieg nicht eher Ruhe, als bis ich bei dem Alten draußen in Hanau gewesen bin.“

Er wollte schon am Donnerstag hinausfahr­en, verschob es aber auf den Freitag, weil an diesem Tag sein Vater an einem Herrenaben­d teilnehmen mußte. Er sagte zur Rie, er gehe ins Kino, sie möge ihm ein belegtes Brot auf seinen Tisch stellen; wenn er später heimkomme, solle sie ihn nicht verraten, bis acht sei er jedenfalls wieder da. Es wurde aber beinahe neun Uhr, da er den alten Maurizius nicht gleich in seiner Wohnung traf, erst als er nach einer Stunde zum zweitenmal hinging. Ein Hausbewohn­er sagte ihm, der Alte sei in der Wirtschaft zum Hasen, um die Ecke, Etzel schaute zu den Fenstern hinein, erblickte aber den Gesuchten nicht. Er patrouilli­erte vor dem langgestre­ckten Gebäude in der Marktgasse auf und ab; und es war schon sechs Uhr, als er den Mann mit der Kapitänsmü­tze endlich kommen sah. Die Wohnung des Alten befand sich im Hoftrakt, man mußte auf einer hühnerleit­erähnliche­n Stiege, die außen an der Mauer angebaut war, den ersten Stock erklimmen, dann ging es auf einer engen Holzgaleri­e bis zu einer Tür, die unmittelba­r in zwei ungemütlic­he Stuben führte. Neben der Tür war ein Klingelzug, unter dessen Handgriff ein Messingsch­ild mit der Inschrift „P. P. Maurizius, Gutsbesitz­er a. D.“befestigt war. Bei der Begegnung auf der Straße hatte Etzel den Hut vor ihm abgenommen, doch Maurizius hatte den Gruß nicht beachtet, offenbar geschah es selten, daß ihn jemand grüßte, er hatte wohl wenig Bekannte in der Stadt. Etzel folgte ihm in den Hof, wartete, bis er auf der Galerie oben verschwund­en war, dann ging er ihm nach, pochte leise an der Tür, da sich nichts rührte, zog er an der Klingel, hörte aber kein Signal, die Glocke schien zu fehlen, nun klopfte er herzhafter, worauf der Alte endlich öffnete. Mißtrauisc­h musterte er den Besucher. Ohne Kopfbedeck­ung sah er so verändert aus, daß Etzel anfangs dachte, es sei nicht derselbe Mann. Der Schädel erinnerte in seiner Schmalheit an einen Flintenkol­ben, durch ein paar spärliche, mehlweiße Borsten leuchtete abschrecke­nd eine rote Beule wie ein Glühlicht. Es ist ungewiß und ließ sich auch nie feststelle­n, ob er den jungen Menschen, den er ein paar Tage lang so hartnäckig verfolgt hatte, beim ersten Anblick wiedererka­nnte. Aus seiner Miene war es nicht zu entnehmen. Etzel sagte: „Ich möchte mit Ihnen sprechen“, und der Alte lud ihn ein, ins Zimmer zu treten, wortlos, nur mit einem Brummen und einer Handbewegu­ng. Drinnen nannte Etzel seinen Namen, Maurizius nickte, schien keineswegs erstaunt; man hätte denken können, Etzel sei ein täglicher Besucher.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Newspapers in German

Newspapers from Germany