Landsberger Tagblatt

So wird die Stadt fit für die Zukunft

Wie wollen wir wohnen, wenn der Trend zu immer größeren Metropolen geht? Richard Sennett, Altmeister der Stadtsozio­logie, hat da ganz bestimmte Vorstellun­gen

- VON ANGELA BACHMAIR

Zwei Drittel der Menschheit werden in wenigen Jahrzehnte­n in Städten leben – das Zukunftssz­enario der Vereinten Nationen beschreibt Megacities wie Tokio (37 Millionen Einwohner), Delhi (29 Millionen) oder Shanghai (26 Millionen) als künftigen Normalfall. Von solchen Dimensione­n sind Europa, Deutschlan­d, Bayern noch weit entfernt, doch auch hier wachsen die Städte. Der Zug hinaus aus der Stadt aufs Land, der lange Zeit Mode war, hat abgebremst. Die schrumpfen­de Stadt, ein Schreckens­bild der Städtebaue­r in den vergangene­n Jahren, trifft vielleicht noch auf struktursc­hwache Teile Ostdeutsch­lands zu, nicht aber auf den prosperier­enden Süden der Republik. Augsburg überschrei­tet in diesen Tagen die 300000-EinwohnerG­renze, München ist auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Marke. Die Folge: Wohnungen sind Mangelware, der Wohnungsba­u boomt durch Neubau oder Nachverdic­htung, die Immobilien­preise klettern ins kaum Vorstellba­re.

Wie aber soll man in den wachsenden Städten leben? Wie müssen die Städte gebaut werden, sodass sie auch bewohnbar bleiben und nicht Konflikte erzeugen zwischen den immer zahlreiche­ren, immer unterschie­dlicheren und auf immer engerem Raum zusammenle­benden Bewohnern? Der Frage stellt sich unter vielen auch der Altmeister der Stadtsozio­logie, der Amerikaner Richard Sennett. In seinem neuen Buch „Die offene Stadt“skizziert er eine „Ethik des Bauens und Bewohnens“, und auch wenn der Band im Grunde nichts Neues bringt im Ver- gleich zu seinen bahnbreche­nden frühen Werken („Civitas“oder „Verfall und Ende des öffentlich­en Lebens“), auch wenn Sennett auf 400 Seiten schon mal geschwätzi­g wird, so ist ihm doch zu danken, dass er konsequent wieder den Blick richtet auf denjenigen, der im Bauund Planungsge­schäft gern vergessen wird: den Menschen.

Seit im 19. Jahrhunder­t die Massen in die Städte strömten, um als Arbeitskrä­fte an der Industrial­isierung teilzuhabe­n, suchten Stadtplane­r nach Lösungen, wie die vielen neuen Bewohner auf begrenztem Raum unterzubri­ngen seien. Radikale Eingriffe kamen zustande, die Menschen und ihre Bedürfniss­e hatten sich in der Regel den Bauplänen unterzuord­nen. Le Corbusiers „Plan Voisin“von 1925 sah vor, in Paris anstelle des gewachsene­n Viertels am rechten Seineufer 18 Hochhäuser zu errichten. Schon viel früher hatte ebenfalls in Paris der Baron Haussmann die mittelalte­rliche Bebauung abbrechen lassen, um breite Boulevards zu schaffen. Große Straßen, eng gedrängte Wohnblöcke und Mietskaser­nen entstanden in allen großen Städten.

Mitunter gab es löbliche Versuche, auch ein wenig Freiraum für die Bewohner zu reserviere­n. So setzte in Barcelona Ildefons Cerda Wohnblocks nach einem identische­n Rasterprin­zip in den Stadtraum, ermöglicht­e aber durch abgeschräg­te Ecken der Blocks kleine Plätze mit Cafés. Auch der Central Park in New York sollte als große städte- bauliche Interventi­on vor allem der Begegnung der Menschen dienen.

Gleichwohl gehen solche Planungen im Großmaßsta­b nach Sennetts Einschätzu­ng am „wahren Leben“vorbei. Sie bereinigen die Komplexitä­t der Stadt, schaffen eine Ordnung, die in der Lebenswirk­lichkeit gar nicht vorhanden ist – Gebautes und Gelebtes klaffen auseinande­r. Die Sehnsucht nach Klarheit, die in einer Stadtplanu­ng auf dem Reißbrett mündet, scheint indes höchst langlebig zu sein. Die Charta von Athen, die die funktional­e Stadt mit säuberlich getrennten Bereichen für Wohnen, Arbeiten und Verkehr propagiert­e, wirkte noch bis ans Ende des 20. Jahrhunder­ts. Und noch im Berlin der Nachwendez­eit feierte die ordentlich­e Blockrandb­ebauung fröhliche Urständ.

Sennett plädiert dagegen für eine, man könnte fast sagen: Unordnung in der Stadt. Um Gebautes und Gelebtes zu versöhnen, müssten Stadtplane­r mehr als bisher das Durcheinan­der, die Komplexitä­t akzeptiere­n, die das Leben so mit sich bringt. Eine lebenswert­e Stadt ist für Sennett offen für die unterschie­dlichen Kulturen ihrer Bewohner (die ja in allen Städten aus ganz verschiede­nen Bereichen dieser Welt kommen) und für die unterschie­dlichen Lebensrhyt­hmen der Jungen und der Alten, der Starken und der Schwachen. Zur lebenswert­en Stadt passen weder die „gated communitie­s“der Reichen noch die Gettos der Armen – Offenheit bedeutet Durchmisch­ung, bedeutet auch Störung und das Aushalten anderer Lebensgewo­hnheiten.

Richard Sennett ist mittlerwei­le 76, und er weiß natürlich, dass seine Vision, sein Plädoyer für Toleranz ein Stück weit an der harten Wirklichke­it sozialer Ungleichhe­it vorbeigeht. So nehmen sich denn seine Vorschläge zur konkreten Verbesseru­ng städtische­n Lebens rührend banal aus: Mehr Pflanzkübe­l solle man im Stadtraum aufstellen und mehr Bänke, und die nicht nur mit Blick auf eine Straße und den Autoverkeh­r, sondern lieber ausgericht­et auf ein schönes Gebäude. So hilflos solche Vorschläge zunächst erscheinen, so sind sie doch richtig: Es geht darum, in der Stadt besondere Orte zu schaffen, Orte, an denen die Stadtbewoh­ner sich wohlfühlen können, die sie als die ihrigen betrachten können. Und es geht darum, dass die Stadtbewoh­ner sich solche Orte selbst schaffen und nicht auf Beglückung durch Stadtplane­r oder Politiker warten. Die Entscheidu­ngsträger freilich müssen die Möglichkei­ten für Bürgerbete­iligung freihalten – partizipat­ive Stadtplanu­ng ist heute zum Glück ein anerkannte­r Standard geworden.

Sennett beschreibt in seinem Buch einen solchen besonderen Ort, und das ist nach viel theoretisc­hem Wortgeklin­gel eine sehr eindrückli­che Passage: Die Kantstraße in Berlin hat er sich nach einem Schlaganfa­ll mühsam wieder erschlosse­n, und langsam gehend, immer wieder zum Ausruhen gezwungen, beobachten­d schildert er, wie sich in dieser Straße die Komplexitä­t städtische­n Lebens spiegelt, wie Menschen einander wahrnehmen und sich doch gegenseiti­g in Ruhe lassen. Das ist wohl Sennets Idealbild einer offenen Stadt. Richard Sennett: Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. Hanser, 400 S., 32 ¤

Oft gehen die Planungen am „wahren Leben“vorbei

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Foto: Imago Die Städte werden immer größer, immer dichter – das gilt auch für München.

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