Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (18)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Der Alte deutete mit dem steifen linken Arm auf einen Stuhl, nahm eine blecherne Tabakschachtel aus der Tischlade und begann die kurze Pfeife zu stopfen. An der Ausstattung des Zimmers war nichts Auffälliges, es war eine Kleinbürgerstube mit Tisch, Kommode, Kleiderschrank, schräg hängendem Spiegel, alles billige Basarware; das einzige Besondere waren Stöße von alten Zeitungen auf einem rohen Bretterständer, zwei bis drei Dutzend mit Bindfäden verschnürte Pakete, die an der Seite mit Blaustift beschriebene Zettel trugen: 1905, 1906, 1907; Voruntersuchung, Verhandlung erster Tag, Verhandlung zweiter Tag usw., ausländische Stimmen, juristische Gutachten, psychiatrische Gutachten und so weiter. Auch Broschüren waren darunter, sämtliches gedruckte Material, wie sich bald ergab, über das Verbrechen und den Prozeß seines Sohnes.
„Hab ja mal wieder eine Eingabe gemacht“, begann Maurizius, indem er sich auf dem mit schwarzem Wachstuch bezogenen, an den Rändern mit weißen Porzellannägeln versehenen Wandsofa niederließ und unter krampfhaften Muskelzuckungen an seiner Pfeife sog, „damit sich die hohe Oberstaatsanwaltschaft nicht aufs Ohr legt. Freilich, es ist, wie wenn man in den Wind spuckt.
Hat Sie wer geschickt, junger Herr? Oder kommen Sie von selber? Was, zum Teufel, hat Sie dazu bewogen? In früheren Jahren sind viele gekommen. Noch im Jahre neun ging’s manchmal zu wie bei einem Modedoktor. Jeden Tag Audienzen. Schriftsteller, Advokaten, Spiritisten, Redakteure. Sogar aus Amerika. Seit zwölf, dreizehn Jahren ist’s still geworden. Auch auf den Schlachtfeldern wird’s still, wenn Frieden geschlossen ist, mag’s noch so ein Scheißfrieden sein. Was wollen Sie, junger Herr? Soviel ich sehe, sind Sie ein verdammt junger Herr.“
Seine Stimme erinnerte an das Gekrächz einer Krähe, doch sprach er nicht laut, nur einzelne Worte stieß er heiser bellend hervor und zog den Mund weit auseinander, so daß die graugrünen Backenbartbüschel, hinter denen die scheußlich nackten Ohrlappen starrten, direkt aus dem Rachen zu wachsen schienen. Etzel gab zu, daß er jung sei, nannte auch sein Alter, fügte aber die etwas dreist klingende Bemerkung bei, er habe sich bis jetzt nicht überzeugen können, daß die Jahre allein genügten, um die Welt vor Dummheit und Gemeinheit zu bewahren.
Maurizius warf ihm einen verdrießlichen Blick zu, dann kicherte er in sich hinein, und das Kichern ging in einen lang währenden Hustenanfall über, der erst nach ausgiebigem Spucken endete. Etzel ekelte sich, doch verbarg er seinen Widerwillen und sagte, mit liebenswürdigem Versuch, einen unbefangenen Konversationston herzustellen, Herr Maurizius möge ihm also seine Jugend nachsehen. Es sei in ihm, er wisse selbst nicht wieso, der Wunsch entstanden, über die Angelegenheit Maurizius die Wahrheit zu hören oder wenigstens den Tatbestand; wenn er auch nicht versprechen könne, daß er, jetzt oder später, in der Lage sein werde, zu nützen und zu helfen – wer würde ihm auch ein solches Versprechen glauben! –, sei es vielleicht am Ende doch keine verschwendete Mühe; jedenfalls sei er, nach langem Schwanken, mit der Hoffnung hergekommen, in der Hinsicht keinen vergeblichen Gang zu tun. Er brachte diesen Appell mit einer schwer zu beschreibenden Mischung von Befangenheit und naiv zuredender Herzlichkeit vor, hatte dabei die Beine übereinandergeschlagen und die Knie mit den Händen umschlungen, und wenn seine Großmutter, die Generalin, ihn so gesehen hätte, wäre sie wahrscheinlich in spöttisches Gelächter ausgebrochen und hätte ihn, wie sie manchmal tat, einen erleuchteten Zwerg geheißen.
Der Alte aber versank in tiefes Schweigen. Die Pfeife ging ihm aus.
Er hatte ein einfaches Leben hinter sich, das allerdings mit zunehmenden Jahren immer düsterer geworden war und in dem der Kampf um die Unschuld des Sohnes sich zur beherrschenden Leidenschaft gesteigert hatte. Aus der Ehe mit einer Pastorstochter vom Oberrhein hatte er vier Kinder gehabt, drei Söhne und eine Tochter. Er besaß ein Gut in der Nähe von Gelnhausen, dessen Haupterträgnisse der Weinbau ausmachte. Er lebte mit seiner Familie ohne Sorgen. Im Sommer 1900 brach eine Typhusepidemie aus, die im Laufe zweier Wochen die Frau, die Tochter und die beiden ältesten Söhne hinwegraffte. Der jüngste Sohn, Leonhart, war um diese Zeit zwanzig Jahre alt und studierte auf der Universität in Bonn. War er schon vorher der Liebling des Vaters gewesen, der in diesem Benjamin der Familie etwas Besonderes erblickte, ja bis zur Schwäche eingenommen war von seinen Talenten und seiner mädchenhaften Zartheit, so wurde nach jener Katastrophe des vierfachen Sterbens, die ihm Leonhart als einziges Kind übrigließ, aus der bloßen Vorliebe und Bevorzugung eine Idolatrie. Er war ihm Vater und Mutter zugleich. Wenn er nicht täglich Nachricht von ihm erhielt, wurde er unruhig. Die nicht eben bescheidenen Geldansprüche des Sohnes erfüllte er ohne Einwand, obwohl sich die Erträgnisse des Gutes in jenen Jahren erheblich verminderten, eine Keltereianlage großen Stils sich als mißglückte Spekulation erwiesen hatte und er, um seine Verbindlichkeiten zu decken, drückende Hypotheken aufnehmen mußte. Darum kümmerte sich Leonhart nicht. Einer glänzenden Laufbahn sicher, verwöhnt von Kommilitonen und Professoren, gern gesehen in der besten Gesellschaft, war ihm die Miene des glücklichen Siegers zur entwaffnenden Natur geworden. Der Vater wagte es nicht, ihm die Illusion zu rauben, daß er als einziger Sohn eines Gutsbesitzers über unbeschränkte Mittel verfüge; im Gegenteil, er zitterte davor, daß er eines Tages den wahren Stand der Dinge zu bekennen haben werde. Jede Auszeichnung Leonharts, jedes bestandene Examen, jede aristokratische Bekanntschaft, die er machte und die ihm der eitle junge Mensch treulich meldete, bereitete ihm eine Genugtuung, als habe er ein staunenswürdiges Genie gezeugt. Die Träume, die er für ihn hegte, gingen hoch hinaus, so hoch reichte Leonharts eigener Ehrgeiz bei weitem nicht, vielleicht gipfelte der schließlich nur darin, gut und angenehm zu leben, sich mühelos vornehmen Neigungen zu überlassen und in der Welt, auf deren Beifall und Meinung er das größte Gewicht legte, eine imponierende Figur zu machen. Kurz nachdem sich Leonhart als Dozent habilitiert hatte, kam es zu der vom Vater so gefürchteten Aufklärung. Es handelte sich um eine Spielschuld von dreieinhalbtausend Mark, die binnen vierundzwanzig Stunden zu begleichen war. Das Geld war nicht da. Nur mit aller Mühe konnte der Alte es beschaffen. Eine Winkelbank lieh es ihm zu wucherischem Zinsfuß. Leonhart war betroffen. »19. Fortsetzung folgt