Nicht nur in eigener Sache
Journalismus Ein „Spiegel“-Redakteur fälschte Reportagen und Interviews. Er löste damit einen der größten Medienskandale der letzten Jahrzehnte aus. Die Branche diskutiert kontrovers. Welche Folgen der „Fall Relotius“bislang hat und welche er noch haben s
Meine Frau liest die Passage aus einem älteren ZEITmagazin laut vor am Esstisch:
„In dieser Nacht legt Anwalt Salem zu Hause müde seine Unterlagen zur Seite. Er klappt seinen Laptop auf und öffnet Battleground, ein Computerspiel. Er wählt ein Land aus, steigt in ein Transportflugzeug und springt mit dem Fallschirm ab. Er gerät auf dem Boden in Gefechte und stirbt um 0.30 Uhr im Schusswechsel. Dann lauscht er in die Nacht. Seine Frau und seine Kinder schlafen ruhig. Es ist ganz still im Haus. Es ist für ihn der glücklichste Moment an diesem Tag.“
„Hast du das gelesen?“, fragt sie. „Woher weiß der Reporter das?“
„Na, er hat diesen Salem offensichtlich begleitet, und der hat ihm wohl erzählt, dass es der glücklichste Moment für ihn war“, sage ich.
„Es klingt, als ob der Reporter im Kopf dieses Salem sitzt. Hoffen wir, dass er ihn wirklich begleitet hat“, antwortet meine Frau, die nicht als Journalistin arbeitet. „Nach Relotius liest man so etwas anders.“Nach Claas Relotius.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel machte Mitte Dezember die Betrügereien seines vielfach preisgekrönten Redakteurs öffentlich. Der 33-Jährige räumte ein, Reportagen und Interviews teilweise oder ganz erfunden zu haben. Er soll dies mit krimineller Energie verschleiert haben – allerdings gelang es ihm auch, „jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen, die der Spiegel in Jahrzehnten geknüpft hat“. So schrieb der Spiegel über sein eigenes Versagen, das offenkundige Versagen von Vorgesetzten und der Spiegel- Dokumentation, die das Hamburger Magazin mal so rühmte: „In keinem anderen deutschen Medienhaus arbeiten so viele hoch spezialisierte Faktenchecker wie an der Ericusspitze.“
Knapp einen Monat nach den Enthüllungen des Spiegel „in eigener Sache“ist es das, was vermutlich auf längere Zeit hin bleibt: Der Zweifel liest fortan – stärker – mit. Bei Reportagen und anderen journalistischen Darstellungsformen.
Aus aktuellem Anlass wurde die Reportage von manchem in der Branche nach Kräften demontiert. Zudem das „Schönschreiben“und das „Geschichten-Erzählen“. An ihnen ist per se nichts Verwerfliches, handelt es sich im Falle des Journalismus zunächst einmal um die Art der Aufbereitung von Fakten. Und, das nebenbei: Wir alle erzählen Geschichten. Im Journalismus dürfen sie allerdings keine Märchen sein.
Vielen geht nun beim Lesen die Frage im Kopf umher: Ist das, was ich da lese, zu schön, um wahr zu sein? Der „Fall Relotius“speist einen Generalverdacht. Der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, hat in einem Kommentar kürzlich festgestellt: „Natürlich ist das betrügerische Machwerk des Spiegel- Reporters Claas Relotius ein schwerer Schlag – für sein Magazin, für das Genre der Reportage und leider auch für einen vielerorts um seine Glaubwürdigkeit kämpfenden Journalismus, der in diesen Zeiten alles gebrauchen konnte, bloß das nicht.“Sein Aber: „Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet die schwere Kunst der Reportage in Verruf geriete und Reporter sich künftig dafür rechtfertigen müssen, dass sie – wie unser Krisenreporter Wolfgang Bauer ge- rade auf Zeit Online schrieb – Fakten erst erfahrbar machen.“
Bauer ist der Autor jener Reportage über die Justiz im Irak, aus der mir meine Frau vorlas. In seinem Text bemüht er sich um größtmögliche Transparenz, schreibt, dass er zwei Wochen lang Prozesse begleitete; zum ersten Mal habe das irakische Justizministerium einem ausländischen Journalisten die Erlaubnis dazu erteilt. Bauer betont, was er überprüfen konnte und was nicht, wo er an Grenzen seiner Recherchemöglichkeiten stieß. Er benennt eigene Zweifel und Unsicherheiten, erklärt seine Arbeit in Passagen wie diesen: „Ein Interview mit dem Onkel ist nicht möglich, ohne den Anwalt oder die Familie zu gefährden.“
Es ist eine vorbildliche Reportage eines akribischen und selbstreflektierten Journalisten, und dass ausgerechnet auch ihn der Generalverdacht trifft, ist ein Jammer. Dies zu schreiben schmerzt mich genauso wie etwas, das ich in den letzten Jahren oft erfahren habe: Journalismus ist erklärungsbedürftig geworden.
Andererseits: Journalisten haben den Anspruch, Zusammenhänge zu erklären. In diesen Zeiten müssen sie eben sich und ihr Handwerk – und nichts anderes ist Journalismus – erklären. Denn es geht um mehr als ihre ureigene Sache.
Anfang Dezember, noch vor den Spiegel- Enthüllungen, sagte der frühere The Guardian- Chefredakteur Alan Rusbridger bei einer PodiumsVeranstaltung: Eine Welt ohne Reporter wäre wie eine Welt ohne Bienen – die Gesellschaft würde zusammenbrechen. „Wir müssen (unsere) Aufgabe, den Dienst für die Öffentlichkeit, deutlich ansprechen.“Menschen würden die Glaubwürdigkeit von Fakten in Zweifel ziehen – „und hier müssen Journalisten vortreten“. Erste Aufgabe von Journalismus sei es immer, zu ermitteln, was wahr und unwahr sei, und sich dafür die nötige Zeit zu nehmen. Reporter-Aufgabe sei es, alle Seiten einer Geschichte zu zeigen und eine Debatte anzuregen – jedoch nicht zu entscheiden, was die Leute denken sollten. So ist es.
Muss sich infolge des Falls Relotius also der Journalismus neu erfinden? Sicher nicht. Wenn es um eine wichtige Konsequenz geht, die Journalisten hierzulande (endlich) ziehen sollten, dann diese: Sie sollten sich dem fatalen Wettrennen um die spektakulärste „Geschichte“oder die schnellste Nachricht verweigern. Künftig wird es noch wichtiger für sie sein, den allerorten kursierenden Fake News, Halbwahrheiten oder Verschwörungstheorien gut recherchierte und aufbereitete Fakten entgegenzusetzen.
Vieles wurde von vielen über Relotius und den Spiegel geschrieben. Wohl keine andere Branche diskutiert derart intensiv und kontrovers, und so wechselten sich überaus selbstkritische und konstruktive Beiträge ab mit Beiträgen, die nachgerade mit selbstzerstörerischer Lust verfasst zu sein schienen. Manches war polemischer Quatsch, manches zeugte von Unwissen, etwa über das Genre Reportage. Natürlich folgt diese einer Dramaturgie, natürlich verdichtet sie, rekonstruiert ein Geschehen mit erzählerischen Mitteln, ist höchst subjektiv, weil sie auf den Beobachtungen des Reporters, der Reporterin beruht. Sie ist ein Konstrukt, wie es jeder Bericht, jedes Interview ist. Journalisten wählen aus, lassen weg, gewichten, ordnen ein.
Angesichts dessen ist es eine perfide Verdrehung rechter wie linker Medien-„Kritiker“, wenn diese immer wieder das Motto des SpiegelGründers Rudolf Augstein zu instrumentalisieren suchen: „Sagen, was ist.“Sie meinen damit: Journalisten sollten das schreiben, was ihre Sicht, also die der Kritiker, bestätigt. Oder: Journalisten sollten „neutral“berichten. Unabhängige Journalisten hören die eine wie die andere Seite. Aber Journalismus erschöpft sich nicht in einem bloßen Er-sagt-Sie-sagt. Um es mit einem Spruch zu formulieren, der sich an Journalisten richtet: „Wenn jemand sagt, es regnet, und ein anderer sagt, es ist trocken, ist es nicht dein Job, beide zu zitieren. Dein Job ist es, aus dem Fenster zu schauen und herauszufinden, was wahr ist.“
Guter Journalismus behauptet gleichwohl nicht, die Wirklichkeit, zu kennen, sondern weiß, dass er allenfalls mit journalistischen Mitteln eine Annäherung an sie liefern kann. Ein guter Journalist hat – im Gegensatz zu Relotius – mehr Fragen als Antworten, seine „Geschichten“sind nie abgeschlossen. Daraus muss jetzt noch stärker folgen, dass Journalisten ihr Handwerk möglichst transparent machen. In Texten wie im Dialog mit ihren Lesern.
Ich habe in den letzten Wochen beobachtet, wie die Branche diskutiert, und dass dies keineswegs ein Selbstgespräch war. Das lässt hoffen. Darauf, dass Redaktionen sensibler werden für die unbestreitbaren Probleme des Journalismus im Allgemeinen und seiner Selbstkontrollmechanismen im Speziellen.
Nach dem, was bekannt ist, steht der Fall Relotius für das Versagen des Spiegel, nicht für eine Bankrotterklärung der (Auslands-)Reportage oder gar für das Systemversagen der Presse. Er ist bis dato vergleichbar mit dem Fall des Interview-Fälschers Tom Kummer oder dem des Fernsehjournalisten Michael Born, der gefälschte Beiträge Magazinsendungen wie „stern TV“verkauft hatte. Born musste ins Gefängnis. An den Skandal um die „Hitler-Tagebücher“des Stern in den 80ern reicht der Fall Relotius nicht heran.
In einer Zeit, in der sich Verachtung häufig als Kritik ausgibt und sich die Wut von rechts wie links auf „das System“im Netz wie auf den Straßen ungehemmt äußert, ist seriöser Journalismus unter Rechtfertigungsdruck. Es ist die Wut auf die „Altparteien“und die „Systempresse“(AfD, Pegida); auf die den „herrschenden Klassen gehörenden Massenmedien“, die die Menschen „täglich mit neoliberaler Propaganda“vollpumpten (aus der „sozialistischen Tageszeitung“Neues Deutschland); auf den „Regierungsrundfunk“(Sahra Wagenknechts linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“); oder auf Forscher, die Norbert Bolz „Gefälligkeitswissenschaftler“nennt. Die aufgeheizte Debatte dreht sich um die Glaubwürdigkeit des Journalismus. Den manch einer in seiner gegenwärtigen Form in Deutschland am liebsten abschaffen möchte. Linksextreme diffamieren Journalisten als „Staatsschutz-Journalisten“oder „Hetzer“. „Lügenpresse“-Schreier, Nationalisten, Rechtsradikale drohen den „volksverhetzenden Eliten“aus „den Pressehäusern“Prügel an.
Weit verbreitet ist die Rede vom volkspädagogischen „Haltungsjournalismus“. Als sei Haltung unanständig. Unabhängige Journalisten haben eine Haltung: Sie fühlen sich den Menschenrechten, der Demokratie samt Pressefreiheit oder dem Pressekodex verpflichtet. Diese Kritik jedoch entbehrt nicht einer Grundlage: die problematische „Verwischung der notwendigen Trennung zwischen faktenstarkem Berichten und meinungsstarkem Kommentieren“. So sagte es der wegen seiner politischen Einlassungen und Aktivitäten umstrittene Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt dieser Redaktion.
Es sind „Verwischungen“, die sich in Rundfunk und Zeitungen finden. Medienwissenschaftler Michael Haller kam etwa in der Studie „Die ,Flüchtlingskrise‘ in den Medien“von 2017 zu dem Schluss, dass große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und erst nach der Silvesternacht 2015/16 „die reale Wirklichkeit hinter der wohlklingenden Willkommensrhetorik“entdeckt hätten. Michael Spreng, ExChefredakteur der Bild am Sonntag, schrieb Anfang Januar dagegen in seinem Blog über die Bild: „Nach wie vor gewichtet sie Nachrichten so, dass ein einseitiges Bild von Flüchtlingsgewalt entsteht, von der die friedfertigen Deutschen bedroht werden.“All das schadet dem Journalismus mehr als der Fall Relotius.
Schließlich haben Journalisten diejenigen zu sein, die im Publikum sitzen, aber nie klatschen.
Journalismus ist erklärungsbedürftig
Ein guter Journalist hat mehr Fragen als Antworten
Der Autor verantwortet seit 2015 die Medienseite dieser Zeitung. Kontakt:
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