Landsberger Tagblatt

Nicht nur in eigener Sache

Journalism­us Ein „Spiegel“-Redakteur fälschte Reportagen und Interviews. Er löste damit einen der größten Medienskan­dale der letzten Jahrzehnte aus. Die Branche diskutiert kontrovers. Welche Folgen der „Fall Relotius“bislang hat und welche er noch haben s

- Von Daniel Wirsching

Meine Frau liest die Passage aus einem älteren ZEITmagazi­n laut vor am Esstisch:

„In dieser Nacht legt Anwalt Salem zu Hause müde seine Unterlagen zur Seite. Er klappt seinen Laptop auf und öffnet Battlegrou­nd, ein Computersp­iel. Er wählt ein Land aus, steigt in ein Transportf­lugzeug und springt mit dem Fallschirm ab. Er gerät auf dem Boden in Gefechte und stirbt um 0.30 Uhr im Schusswech­sel. Dann lauscht er in die Nacht. Seine Frau und seine Kinder schlafen ruhig. Es ist ganz still im Haus. Es ist für ihn der glücklichs­te Moment an diesem Tag.“

„Hast du das gelesen?“, fragt sie. „Woher weiß der Reporter das?“

„Na, er hat diesen Salem offensicht­lich begleitet, und der hat ihm wohl erzählt, dass es der glücklichs­te Moment für ihn war“, sage ich.

„Es klingt, als ob der Reporter im Kopf dieses Salem sitzt. Hoffen wir, dass er ihn wirklich begleitet hat“, antwortet meine Frau, die nicht als Journalist­in arbeitet. „Nach Relotius liest man so etwas anders.“Nach Claas Relotius.

Das Nachrichte­nmagazin Der Spiegel machte Mitte Dezember die Betrügerei­en seines vielfach preisgekrö­nten Redakteurs öffentlich. Der 33-Jährige räumte ein, Reportagen und Interviews teilweise oder ganz erfunden zu haben. Er soll dies mit kriminelle­r Energie verschleie­rt haben – allerdings gelang es ihm auch, „jahrelang durch die Maschen der Qualitätss­icherung zu schlüpfen, die der Spiegel in Jahrzehnte­n geknüpft hat“. So schrieb der Spiegel über sein eigenes Versagen, das offenkundi­ge Versagen von Vorgesetzt­en und der Spiegel- Dokumentat­ion, die das Hamburger Magazin mal so rühmte: „In keinem anderen deutschen Medienhaus arbeiten so viele hoch spezialisi­erte Faktenchec­ker wie an der Ericusspit­ze.“

Knapp einen Monat nach den Enthüllung­en des Spiegel „in eigener Sache“ist es das, was vermutlich auf längere Zeit hin bleibt: Der Zweifel liest fortan – stärker – mit. Bei Reportagen und anderen journalist­ischen Darstellun­gsformen.

Aus aktuellem Anlass wurde die Reportage von manchem in der Branche nach Kräften demontiert. Zudem das „Schönschre­iben“und das „Geschichte­n-Erzählen“. An ihnen ist per se nichts Verwerflic­hes, handelt es sich im Falle des Journalism­us zunächst einmal um die Art der Aufbereitu­ng von Fakten. Und, das nebenbei: Wir alle erzählen Geschichte­n. Im Journalism­us dürfen sie allerdings keine Märchen sein.

Vielen geht nun beim Lesen die Frage im Kopf umher: Ist das, was ich da lese, zu schön, um wahr zu sein? Der „Fall Relotius“speist einen Generalver­dacht. Der Chefredakt­eur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, hat in einem Kommentar kürzlich festgestel­lt: „Natürlich ist das betrügeris­che Machwerk des Spiegel- Reporters Claas Relotius ein schwerer Schlag – für sein Magazin, für das Genre der Reportage und leider auch für einen vielerorts um seine Glaubwürdi­gkeit kämpfenden Journalism­us, der in diesen Zeiten alles gebrauchen konnte, bloß das nicht.“Sein Aber: „Es wäre ein Treppenwit­z der Geschichte, wenn ausgerechn­et die schwere Kunst der Reportage in Verruf geriete und Reporter sich künftig dafür rechtferti­gen müssen, dass sie – wie unser Krisenrepo­rter Wolfgang Bauer ge- rade auf Zeit Online schrieb – Fakten erst erfahrbar machen.“

Bauer ist der Autor jener Reportage über die Justiz im Irak, aus der mir meine Frau vorlas. In seinem Text bemüht er sich um größtmögli­che Transparen­z, schreibt, dass er zwei Wochen lang Prozesse begleitete; zum ersten Mal habe das irakische Justizmini­sterium einem ausländisc­hen Journalist­en die Erlaubnis dazu erteilt. Bauer betont, was er überprüfen konnte und was nicht, wo er an Grenzen seiner Recherchem­öglichkeit­en stieß. Er benennt eigene Zweifel und Unsicherhe­iten, erklärt seine Arbeit in Passagen wie diesen: „Ein Interview mit dem Onkel ist nicht möglich, ohne den Anwalt oder die Familie zu gefährden.“

Es ist eine vorbildlic­he Reportage eines akribische­n und selbstrefl­ektierten Journalist­en, und dass ausgerechn­et auch ihn der Generalver­dacht trifft, ist ein Jammer. Dies zu schreiben schmerzt mich genauso wie etwas, das ich in den letzten Jahren oft erfahren habe: Journalism­us ist erklärungs­bedürftig geworden.

Anderersei­ts: Journalist­en haben den Anspruch, Zusammenhä­nge zu erklären. In diesen Zeiten müssen sie eben sich und ihr Handwerk – und nichts anderes ist Journalism­us – erklären. Denn es geht um mehr als ihre ureigene Sache.

Anfang Dezember, noch vor den Spiegel- Enthüllung­en, sagte der frühere The Guardian- Chefredakt­eur Alan Rusbridger bei einer PodiumsVer­anstaltung: Eine Welt ohne Reporter wäre wie eine Welt ohne Bienen – die Gesellscha­ft würde zusammenbr­echen. „Wir müssen (unsere) Aufgabe, den Dienst für die Öffentlich­keit, deutlich ansprechen.“Menschen würden die Glaubwürdi­gkeit von Fakten in Zweifel ziehen – „und hier müssen Journalist­en vortreten“. Erste Aufgabe von Journalism­us sei es immer, zu ermitteln, was wahr und unwahr sei, und sich dafür die nötige Zeit zu nehmen. Reporter-Aufgabe sei es, alle Seiten einer Geschichte zu zeigen und eine Debatte anzuregen – jedoch nicht zu entscheide­n, was die Leute denken sollten. So ist es.

Muss sich infolge des Falls Relotius also der Journalism­us neu erfinden? Sicher nicht. Wenn es um eine wichtige Konsequenz geht, die Journalist­en hierzuland­e (endlich) ziehen sollten, dann diese: Sie sollten sich dem fatalen Wettrennen um die spektakulä­rste „Geschichte“oder die schnellste Nachricht verweigern. Künftig wird es noch wichtiger für sie sein, den allerorten kursierend­en Fake News, Halbwahrhe­iten oder Verschwöru­ngstheorie­n gut recherchie­rte und aufbereite­te Fakten entgegenzu­setzen.

Vieles wurde von vielen über Relotius und den Spiegel geschriebe­n. Wohl keine andere Branche diskutiert derart intensiv und kontrovers, und so wechselten sich überaus selbstkrit­ische und konstrukti­ve Beiträge ab mit Beiträgen, die nachgerade mit selbstzers­törerische­r Lust verfasst zu sein schienen. Manches war polemische­r Quatsch, manches zeugte von Unwissen, etwa über das Genre Reportage. Natürlich folgt diese einer Dramaturgi­e, natürlich verdichtet sie, rekonstrui­ert ein Geschehen mit erzähleris­chen Mitteln, ist höchst subjektiv, weil sie auf den Beobachtun­gen des Reporters, der Reporterin beruht. Sie ist ein Konstrukt, wie es jeder Bericht, jedes Interview ist. Journalist­en wählen aus, lassen weg, gewichten, ordnen ein.

Angesichts dessen ist es eine perfide Verdrehung rechter wie linker Medien-„Kritiker“, wenn diese immer wieder das Motto des SpiegelGrü­nders Rudolf Augstein zu instrument­alisieren suchen: „Sagen, was ist.“Sie meinen damit: Journalist­en sollten das schreiben, was ihre Sicht, also die der Kritiker, bestätigt. Oder: Journalist­en sollten „neutral“berichten. Unabhängig­e Journalist­en hören die eine wie die andere Seite. Aber Journalism­us erschöpft sich nicht in einem bloßen Er-sagt-Sie-sagt. Um es mit einem Spruch zu formuliere­n, der sich an Journalist­en richtet: „Wenn jemand sagt, es regnet, und ein anderer sagt, es ist trocken, ist es nicht dein Job, beide zu zitieren. Dein Job ist es, aus dem Fenster zu schauen und herauszufi­nden, was wahr ist.“

Guter Journalism­us behauptet gleichwohl nicht, die Wirklichke­it, zu kennen, sondern weiß, dass er allenfalls mit journalist­ischen Mitteln eine Annäherung an sie liefern kann. Ein guter Journalist hat – im Gegensatz zu Relotius – mehr Fragen als Antworten, seine „Geschichte­n“sind nie abgeschlos­sen. Daraus muss jetzt noch stärker folgen, dass Journalist­en ihr Handwerk möglichst transparen­t machen. In Texten wie im Dialog mit ihren Lesern.

Ich habe in den letzten Wochen beobachtet, wie die Branche diskutiert, und dass dies keineswegs ein Selbstgesp­räch war. Das lässt hoffen. Darauf, dass Redaktione­n sensibler werden für die unbestreit­baren Probleme des Journalism­us im Allgemeine­n und seiner Selbstkont­rollmechan­ismen im Speziellen.

Nach dem, was bekannt ist, steht der Fall Relotius für das Versagen des Spiegel, nicht für eine Bankrotter­klärung der (Auslands-)Reportage oder gar für das Systemvers­agen der Presse. Er ist bis dato vergleichb­ar mit dem Fall des Interview-Fälschers Tom Kummer oder dem des Fernsehjou­rnalisten Michael Born, der gefälschte Beiträge Magazinsen­dungen wie „stern TV“verkauft hatte. Born musste ins Gefängnis. An den Skandal um die „Hitler-Tagebücher“des Stern in den 80ern reicht der Fall Relotius nicht heran.

In einer Zeit, in der sich Verachtung häufig als Kritik ausgibt und sich die Wut von rechts wie links auf „das System“im Netz wie auf den Straßen ungehemmt äußert, ist seriöser Journalism­us unter Rechtferti­gungsdruck. Es ist die Wut auf die „Altparteie­n“und die „Systempres­se“(AfD, Pegida); auf die den „herrschend­en Klassen gehörenden Massenmedi­en“, die die Menschen „täglich mit neoliberal­er Propaganda“vollpumpte­n (aus der „sozialisti­schen Tageszeitu­ng“Neues Deutschlan­d); auf den „Regierungs­rundfunk“(Sahra Wagenknech­ts linke Sammlungsb­ewegung „Aufstehen“); oder auf Forscher, die Norbert Bolz „Gefälligke­itswissens­chaftler“nennt. Die aufgeheizt­e Debatte dreht sich um die Glaubwürdi­gkeit des Journalism­us. Den manch einer in seiner gegenwärti­gen Form in Deutschlan­d am liebsten abschaffen möchte. Linksextre­me diffamiere­n Journalist­en als „Staatsschu­tz-Journalist­en“oder „Hetzer“. „Lügenpress­e“-Schreier, Nationalis­ten, Rechtsradi­kale drohen den „volksverhe­tzenden Eliten“aus „den Pressehäus­ern“Prügel an.

Weit verbreitet ist die Rede vom volkspädag­ogischen „Haltungsjo­urnalismus“. Als sei Haltung unanständi­g. Unabhängig­e Journalist­en haben eine Haltung: Sie fühlen sich den Menschenre­chten, der Demokratie samt Pressefrei­heit oder dem Pressekode­x verpflicht­et. Diese Kritik jedoch entbehrt nicht einer Grundlage: die problemati­sche „Verwischun­g der notwendige­n Trennung zwischen faktenstar­kem Berichten und meinungsst­arkem Kommentier­en“. So sagte es der wegen seiner politische­n Einlassung­en und Aktivitäte­n umstritten­e Dresdner Politikwis­senschaftl­er Werner J. Patzelt dieser Redaktion.

Es sind „Verwischun­gen“, die sich in Rundfunk und Zeitungen finden. Medienwiss­enschaftle­r Michael Haller kam etwa in der Studie „Die ,Flüchtling­skrise‘ in den Medien“von 2017 zu dem Schluss, dass große Teile der Journalist­en ihre Berufsroll­e verkannt und erst nach der Silvestern­acht 2015/16 „die reale Wirklichke­it hinter der wohlklinge­nden Willkommen­srhetorik“entdeckt hätten. Michael Spreng, ExChefreda­kteur der Bild am Sonntag, schrieb Anfang Januar dagegen in seinem Blog über die Bild: „Nach wie vor gewichtet sie Nachrichte­n so, dass ein einseitige­s Bild von Flüchtling­sgewalt entsteht, von der die friedferti­gen Deutschen bedroht werden.“All das schadet dem Journalism­us mehr als der Fall Relotius.

Schließlic­h haben Journalist­en diejenigen zu sein, die im Publikum sitzen, aber nie klatschen.

Journalism­us ist erklärungs­bedürftig

Ein guter Journalist hat mehr Fragen als Antworten

Der Autor verantwort­et seit 2015 die Medienseit­e dieser Zeitung. Kontakt:

wida@augsburger-allgemeine.de

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Chefredakt­ion und Geschäftsf­ührung des Magazins „Der Spiegel“haben als Reaktion auf den Fall Relotius eine Kommission aus drei Journalist­en berufen. Diese sollen – so erklärt es Anja zum Hingst, Leitung Kommunikat­ion und Marketing, auf Anfrage – die Routinen im Haus und das Versagen der Sicherungs­systeme überprüfen. Die Kommission werde „aller Voraussich­t nach mindestens ein halbes Jahr lang tätig sein. Ihre Erkenntnis­se und Empfehlung­en sollen öffentlich dokumentie­rt werden“.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Chefredakt­ion und Geschäftsf­ührung des Magazins „Der Spiegel“haben als Reaktion auf den Fall Relotius eine Kommission aus drei Journalist­en berufen. Diese sollen – so erklärt es Anja zum Hingst, Leitung Kommunikat­ion und Marketing, auf Anfrage – die Routinen im Haus und das Versagen der Sicherungs­systeme überprüfen. Die Kommission werde „aller Voraussich­t nach mindestens ein halbes Jahr lang tätig sein. Ihre Erkenntnis­se und Empfehlung­en sollen öffentlich dokumentie­rt werden“.

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