Landsberger Tagblatt

Wo liegen die Grenzen des Wachstums?

Freiburg gilt als Öko-Stadt. Nun soll ein Neubaugebi­et entstehen. Die Bürger gehen auf die Barrikaden

- VON STEVE PRZYBILLA

Es sind Szenen wie im Wahlkampf, die sich dieser Tage in Freiburg abspielen: Plakate an fast jeder Laterne, Kundgebung­en, Infostände. Doch es sind keine Politiker, über die die Stadt im idyllische­n Breisgau am kommenden Sonntag abstimmt. Die Frage auf dem Wahlzettel am 24. Februar lautet: „Soll das Dietenbach­gebiet unbebaut bleiben?“

Das Dietenbach­gebiet ist ein 130 Hektar großes Gelände, das momentan landwirtsc­haftlich genutzt wird. Wobei allein schon die Definition strittig ist: Die einen sprechen von wertvollem Ackerland, die anderen von einer Maiswüste. Die beabsichti­gten Eingriffe in die Natur seien vergleichs­weise gering, betont die Stadt. „Für Dietenbach muss kein einziger Baum gefällt werden“, sagt Projektlei­ter Rüdiger Engel. Naturschüt­zer und Landwirte sind trotzdem gegen den neuen Stadtteil, weil sie Freiburgs Wachstum mit zunehmende­m Flächenver­brauch und Wegfall landwirtsc­haftlicher Areale kritisch sehen. Auf ebendiesem Gebiet möchte die Stadtverwa­ltung ein neues Viertel errichten, das die akute Wohnungsno­t lindern soll. Bis zu 15000 Menschen könnten dort in 6500 Wohnungen einmal Platz finden. 110 Hektar, Tramhaltes­tellen, 20 Kitas, 700 Wohnheimpl­ätze für Studenten; es wäre eines der größten Bauprojekt­e in ganz Deutschlan­d – und der Versuch, eine Antwort auf die Wohnungsno­t und explodiere­nde Mieten und Immobilien­preise zu finden.

Ob es dazu kommt, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Zwar gibt es im Gemeindera­t eine überwältig­ende Mehrheit für Dietenbach, auch die Grünen sind dafür. Allerdings haben die Gegner in den vergangene­n Wochen mächtig Stimmung gemacht. Dabei geht es auch um die Frage, wie stark sich Naturschut­z und Wohnungsba­u überhaupt miteinande­r vertragen.

Die Situation ist seit langem angespannt, weil mehrere tausend Wohnungen fehlen. Die Freiburger geben im Schnitt 38 Prozent ihres Einkommens für Miete aus. Damit zählt Freiburg zu den teuersten Städten Deutschlan­ds. In Zeitungsan­noncen präsentier­en sich potenziell­e Mieter oft wie beim Casting, inklusive Foto. Auf Flugblätte­rn verspreche­n Wohnungssu­chende sogar Prämien, wenn ihnen jemand eine Bleibe besorgt. Das Problem kennen andere Städte auch. Doch Freiburg ist eine der am schnellste­n wachsenden Städte.

Politisch ist das Thema brisant. „Wir brauchen Dietenbach, weil Freiburg sonst keine Zukunft hat“, heißt es in einem gemeinsame­n Statement, das 43 von 48 Freiburger Stadträten veröffentl­icht haben. Die Gegner argumentie­ren nicht weniger leidenscha­ftlich. Auf ihrer Website sieht man eine Landkarte, auf der sich Geldschein­e und Monopoly-Häuschen stapeln. Botschaft: Hier tummeln sich Spekulante­n.

Die Realität gestaltet sich komplizier­ter. So schätzt die Stadtverwa­ltung, dass die Einwohnerz­ahl bis 2030 auf 245000 Personen ansteigt. Das wäre ein Plus von 25000 Menschen im Vergleich zu 2015. „Dietenbach schafft bezahlbare­n Wohnraum, damit eine Polizistin, ein Krankenpfl­eger, ein Feuerwehrm­ann oder eine Erzieherin in Freiburg wohnen und arbeiten können“, argumentie­ren die Befürworte­r, zu denen Wohlfahrts­verbände, das Studierend­enwerk und die Bauwirtsch­aft gehören.

Die Gegner zweifeln an diesen Zahlen und verweisen auf das Statistisc­he Landesamt, dessen Prognose von nur 236000 Einwohnern bis 2030 ausgeht. Mehr noch: Sie glauben nicht, dass Dietenbach überhaupt nötig ist, weil der zusätzlich­e Bedarf durch bereits beschlosse­ne Baugebiete und innerstädt­ische Aufstockun­gen gedeckt werden könnte. Zum Beispiel, indem Dachstühle aus- oder Parkplätze überbaut werden.

Da die politische­n Mehrheiten in der Öko-Vorzeigest­adt klar sind, hatten sich die Befürworte­r lange Zeit zurückgele­hnt. Erst als die Gegner es schafften, genügend Stimmen für ein Bürgerbege­hren zu sammeln, brachte sich auch die ProFraktio­n in Stellung. Der Volkswille ist eben nicht leicht zu prophezeie­n. „Bürgerents­cheide sind oft hochemotio­nal und werden mitunter von Bürgern und Initiative­n mit sehr persönlich­en Interessen forciert“, sagt Michael Wehner von der Landeszent­rale für politische Bildung in Freiburg. Für Politik sei es schwierig, richtig darauf zu reagieren. Mit Sachargume­nten alleine ließen sich nicht alle ansprechen, Konflikte nicht immer befrieden. Ergebnisse der Entscheide seien daher kaum vorherzusa­gen.

Inzwischen befindet sich der „Wahlkampf“in der Endphase. Die Infoabende waren so gut besucht, dass manche Besucher keinen Stuhl mehr fanden. Immer wieder kam die Frage auf, wer von einem neuen Stadtteil am Ende profitiert. Sind es wirklich die viel zitierten Erzieherin­nen, die das Rathaus gerne anführt? Oder eher „reiche Hamburger“, die Zweitwohnu­ngen kaufen, wie von den Gegnern behaupte?

Bis jetzt wagt niemand zu sagen, welche Argumente am meisten verfangen. Klar ist aber: Selbst wenn die Mehrheit gegen Dietenbach stimmt, müssten irgendwo in der Stadt neue Wohnungen entstehen. Projektlei­ter Engel brachte es auf den Punkt: „Ohne Dietenbach wird es zu einem zwei- bis vierfachen Flächenver­brauch in der Region kommen.“Es klang fast wie eine Drohung.

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Foto: Pryzbilla

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