Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (56)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Sie erklärt es ja einigermaßen plausibel mit ihrer Verstörtheit; oben die beinahe unzurechnungsfähige Schwester, sie unten, allein, schaudernd vor der Ankunft des verzweifelten Menschen, dessen Versuche, Geld aufzutreiben, wie zu vermuten, kläglich gescheitert sind. So spielt sie den Karneval von Schumann und hat dabei Schreckvisionen von verdächtigen Gestalten, die ums Haus lungern. In ein paar Minuten wird Leonhart dasein, sie hält es nicht mehr aus, stürzt ans Telephon und beschwört Waremme, zu kommen. Ganz gut, ganz gut, nur könnte es aussehen, als habe Waremme auf den Ruf gewartet. Da klappt alles zu gut.
Man könnte auch den Verdacht schöpfen, daß Elli in der allerletzten Sekunde alarmiert worden ist, und die Frage des Verteidigers an die Jahn war nicht aus der Luft gegriffen, wie sie es erkläre, daß Elli trotz ihres leidenden Zustandes, trotz der Herzkrämpfe, an denen sie seit dem Morgen litt, Zimmer und Haus verließ, um ihrem Gatten entgegenzugehen, nicht nur entgegenzugehen, entgegenzufliegen. Es war ein kritischer Moment, die Geschworenen hoben die Köpfe, die Bemerkung des Vorsitzenden, Fräulein Jahn sei wohl kaum imstande, darüber Auskunft zu geben, da sie doch nicht als Krankenpflegerin bei der Schwester gedient habe, erregte Unwillen im Publikum.
Aber da war dann der alte Gottlieb Wilhelm Jahn, ein Onkel der Schwestern, zur Zeugenaussage über seine Nichten berufen, der auf die Stimmung der Geschworenen großen Einfluß übte, als er, gegen die Anklagebank gekehrt, mit erhobener Hand ausrief: Der Elende hat nicht bloß die eine leiblich gemordet, sein Weib, seinen einzigen Freund im Leben, sondern auch die andere geistig und in der Seele; der Fluch der ganzen Menschheit trifft ihn. Als er das sagte, der alte Herr mit dem riesigen weißen Bart, faltete Anna die Hände und schloß die Augen. Es war, wie die Ohnmacht Waremmes, einer der großen Momente des Prozesses. Herr von Andergast ging schneller, mit weitausholenden Schritten. Er erinnert sich an die Schönheit des jungen Mädchens, die auch ihn damals faszinierte. Es ist, als wär’s gestern gewesen, wie sie dastand im engen, schwarzen Kleid mit der weißen Halskrause und den weißen Spitzenärmeln über den schlanken, blassen Händen. Er hatte kurz vorher eine Reproduktion der Maria Stuart von Clouet gesehen und entsinnt sich noch genau, wie verblüfft er über die Ähnlichkeit war, die Anna Jahn mit dem Bildnis hatte.
Der schmerzliche Mund, die Augen, „deren Blick kein Ende hatte“, wie ein Journalist damals aufgeregt schrieb, der Adel der Bewegung, die Zartheit der Figur, man konnte es nicht vergessen. Frevel, zu glauben, solch ein Wesen könne von Lüge auch nur wissen; die lebte in einer Welt für sich, hineingefroren in ein unnahbares Element. Gerichtshof und Geschworene sahen eine Märtyrerin in ihr. „Sie hob sich von dem Prozeß ab wie eine weiße Blume von einem schwarzen Vorhang“, schrieb derselbe aufgeregte Journalist. Außerdem, juristisch betrachtet, war sie sozusagen die Achse des Beweisverfahrens; hätte Herr von Andergast die verschieben lassen, so schwand ihm der Boden unter den Füßen. Es kam ja auf Gottes weiter Welt nur ein einziger möglicher Täter in Frage. Absolut niemand außer ihm. Kein Mitschuldiger, kein Vertrauter. Wo wären die zu suchen gewesen? „Daraus folgt unweigerlich, daß uns, daß mir der Weg vorgezeichnet war wie mit einem diamantenen Griffel …“
Er setzte sich gegen einen Windstoß zur Wehr, als sei es der letzte Ansturm seiner Zweifel, und sagte stehenbleibend: „Daher ist auch das Urteil nicht anfechtbar. In keinem Punkt.“Und nach ein paar Schritten, wieder stehenbleibend: „Ich übernehme jede Verantwortung.“Und abermals nach ein paar Schritten, fast schreiend: „Nein, das Urteil ist nicht anfechtbar.“
Aber das Diktum, so abschließend es klang, erstickte nicht den schüchternsten der Zweifel. Der Schrecken in seinem Auge weitete sich wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt.
Er wich innerlich dem Schrecken aus, er ging mit seinen Gedanken scheu um ihn herum. Es war Unaufrichtigkeit gegen sich selbst, und er empfand sie quälend wie eine Störung des Lebensgleichgewichts. Als Kind hatte er, mit wachsender Abneigung, eine Wanduhr gesehen, wochenlang jeden Tag, deren Pendel einen unregelmäßigen und fehlerhaften Ausschwung hatte. Daran mußte er fortwährend denken. Auf der Rödelheimer Straße rief er ein leeres Auto an und fuhr in die Stadt zurück. In halbschlafähnlichem Zustand, bis auf die Haut naß, lehnte er in der Wagenecke. Wo mag der Junge sein? schoß es ihm plötzlich durch den Sinn. Die Gedanken gehorchten nicht mehr. Es war eine Sekunde, wo er den Wunsch mancher Kinder begriff, krank zu werden, damit sie nicht in die Schule müssen. Wozu hätte es ihm aber dienen sollen, krank zu sein? Was gab es für ihn anderes als die „Schule“?
Ja, er konnte sich in sein widerliches Schlafzimmer zurückziehen wie in eine entlegene Höhle, von Zeit zu Zeit würde die widerliche Rie an sein Bett trippeln, und nicht einmal die kleine Violet würde er zu sich rufen können…
Violet Winston war eine junge Kalifornierin, die er vor drei Jahren, nach einem Herrendiner, im Russischen Hof kennengelernt hatte. Sie saß in der Hotelhalle und mühte sich umsonst, einem Kellner irgend etwas begreiflich zu machen. Herr von Andergast leistete Übersetzungshilfe.
Sie war erst vor ein paar Tagen von drüben gekommen, wollte auf dem Sternschen Konservatorium studieren, kannte keine Seele in der Stadt, stand ganz allein in der Welt und hatte noch für ein halbes Jahr Geld zum Leben. Sie wurde seine Freundin, und er mietete ihr, sehr weit von seinem Hause, eine bescheidene Wohnung am Pestalozziplatz, wo sie ihn, zwei- bis dreimal im Monat, empfing. Das Verhältnis war von tiefster Heimlichkeit umgeben; dank der rigorosen Vorsicht des Herrn von Andergast war bis jetzt alles Gerede vermieden worden.
Reizvolle Aufgabe, sich nach dem Charakter eines Mannes, den man kennt, das Bild seiner Geliebten zu konstruieren. In vielen Fällen wird sich das Richtige annähernd treffen lassen, ohne daß man sich zu billig im Gegensätzlichen ergeht oder simple Anziehungen schematisiert. Doch wenn erwogen wird, daß, wie in diesem Fall, die Finsterkeit in einem Menschen nicht erotisch gelöst, nicht einmal seelisch vom andern Teil aufgenommen werden kann und daß eine fortgeschrittene Vereisung nur noch Vorwände des Lebens kennt, seine Wärme nicht mehr, seine Gestalt nur dem Scheine nach, so wird die Wahl, die Herr von Andergast mit der jungen Amerikanerin traf, nicht überraschen. Sie bot ihm nichts, sie war ihm nichts, denn sie hatte nichts zu geben, sie war selber – nichts. Und eben dieses Nichts brauchte er.