Landsberger Tagblatt

Wenn alte Bücher Krimis bergen

Literatur Mittelalte­rliche Handschrif­ten können ziemlich aufregend sein. Christophe­r de Hamel beweist das mit einem Band voller bemerkensw­erter Geschichte­n

- VON CHRISTA SIGG

Mister Dunwoodle muss ein besonderer Lehrer gewesen sein. Im fernen Neuseeland kam er eines Tages mit seinem Plattenspi­eler in den Lateinunte­rricht und legte Carl Orff auf. Nach Cäsars trockenem „Gallischem Krieg“waren die „Carmina Burana“mit ihren markigen Rhythmen und den sinnlichen Texten über saufende, liebestoll­e Scholaren so etwas wie „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“auf Latein. Zumindest für die „hormonell aufgeladen­en Jungs“einer prüden Knabenschu­le Mitte der 1960er Jahre. Christophe­r de Hamel schwärmt heute noch, und womöglich hat ihn dieses Erlebnis so nachhaltig aufgewühlt, dass aus ihm ein Experte für mittelalte­rliche Manuskript­e geworden ist.

Ein Dutzend der bedeutends­ten Handschrif­ten hat der inzwischen 68-jährige Bibliothek­ar nun in seinem Buch „Pracht und Anmut“beschriebe­n. Selbstvers­tändlich ist das legendäre „Book of Kells“darunter, das kurz vor 800 entstanden sein dürfte. Zur Auswahl gehören auch die „Leidener Aratea“aus der Karolinger­zeit mit ihren herrlichen Sternbilde­rn. Oder das Augustinus­Evangeliar aus dem 6. Jahrhunder­t. Das hat dem Autor ein Treffen mit Benedikt XVI. beschert.

Damit ist auch schon das Außergewöh­nliche an de Hamels 750-Seiten-Brocken angedeutet: Er hat zu jedem Objekt mindestens zwei, drei tolle Geschichte parat. Zum Beispiel über das mysteriöse Verschwind­en des „Book of Kells“aus dem Trinity College in Dublin. 1874 war das, und die Zeitungen überschlug­en sich mit Mutmaßunge­n. Am Ende hatte der College-Bibliothek­ar die- sen frühen Gipfel abendländi­scher Buchmalere­i nach London ans British Museum gebracht, um dort Rat für eine neue Bindung einzuholen.

Mit dem „Book of Kells“unterm Arm einfach mal nach London zu fahren, ist schon bizarr. Ein solcher Transport wäre heute völlig undenkbar. Bücher dieser Klasse dürfen nicht mehr reisen, wenn überhaupt, dann in gefederten Klimakiste­n. Und auch das macht den Restaurato­ren Bauchschme­rzen, gerade Miniaturma­lerei ist eine höchst fragile Angelegenh­eit, zu leicht blättert Farbe ab. Irrwitzige Summen wie die gut 30 Millionen US-Dollar, die Bill Gates 1994 für Leonardo da Vincis Codex Leicester bezahlt hat, sind allerdings kein Phänomen unserer Zeit. Vor 100 Jahren kam das kostbare kleine Stundenbuc­h der Johanna von Navarra bei Sotheby’s für seinerzeit sensatione­lle 11800 Pfund unter den Hammer. Ein Vertreter des Barons Edmond de Rothschild und ein sehr betuchter Bibliothek­ar lieferten sich eine heiße Bietschlac­ht, bei der der bürgerlich­e Bücherwurm unterlag. Und Rothschild besaß unter anderem schon die „Très Belles Heures“des Herzogs von Berry.

Das brachte den unersättli­chen Hermann Göring auf den Plan. 1942 ließ sich Hitlers „Reichsmars­chall“das Stundenbuc­h der Johanna unter den von den Nazis „sichergest­ellten Kulturgüte­rn“in Paris beschaffen – dann verlor sich jede Spur. Nach dem Krieg wurde Edmonds Tante Alexandrin­e de Rothschild vom Finanzmini­sterium in Bonn eine Entschädig­ung über 17,5 Millionen Mark zugesproch­en. Glückliche­rweise ist das Buch wieder aufgetauch­t, und nach jahrelange­n Verhandlun­gen zwischen Frankreich und Deutschlan­d liegt das Stundenbuc­h seit den 1970er Jahren in der Bibliothèq­ue nationale in Paris.

In den frühen 70er Jahre kam Christophe­r de Hamel nach München an die Bayerische Staatsbibl­iothek. Dort werden die eingangs genannten „Carmina Burana“seit 1806 aufbewahrt und de Hamel durfte die 800 Jahre alte Gedichtund Liedsammlu­ng aus dem Kloster Benediktbe­uern im Original studieren. Und natürlich hat er nicht nur nach erhabenen Psalmen und moralisier­enden Gedichten gesucht. Sondern auch – die Schule prägt halt – nach verspielte­n Hütermädch­en, lüsternen Burschen und überschäum­enden Humpen.

Der leidenscha­ftliche Paläograf de Hamel erzählt das alles mit feiner Selbstiron­ie und viel britischem Humor. Und trotz mancher Weitschwei­figkeit lesen sich seine sehr fundierten Buch-Porträts zuweilen wie ein Krimi. Mehr kann man für mittelalte­rliche Manuskript­e, ja die Schriftkul­tur an sich nicht tun. In Zeiten übereifrig­er Digitalisi­erung macht das freilich auch wehmütig. ⓘ

Christophe­r de Hamel: Pracht und Anmut. C. Bertelsman­n, 752 S., 48 ¤

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Foto: National Library of Wales Christophe­r de Hamel auf Erkundung.

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