Landsberger Tagblatt

Mit dem Rücken zur Wand

Papst Franziskus verurteilt Missbrauch – doch reicht das?

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN pol@augsburger-allgemeine.de

Es waren deutliche Worte, die Papst Franziskus gestern zum Abschluss der viertägige­n Konferenz im Vatikan fand. Doch viele Kritiker finden auch: Zum einen komme es zu spät, das bislang einmalige Treffen zum für die katholisch­e Kirche so brisanten Thema Missbrauch, zum anderen seien die Ergebnisse mager – allen Demutsbeku­ndungen einzelner Kardinäle, allen Bußbezeugu­ngen mancher Bischöfe und allen Worten des Papstes zum Trotz. Tatsächlic­h muss jeder, der auf einen großen Wurf, eine Reform der Strukturen gehofft hatte, enttäuscht sein nach den vier Tagen von Rom, um die es auf der Dritten

Seite geht. Ob von der Konferenz dennoch ein Signal für eine Kirche mit dem Rücken zur Wand und vor allem die unzähligen Opfer ausgehen kann, steht im

Jesus Christus war vor 2000 Jahren wohl das, was man heute einen spirituell­en Freak nennen würde. Er sprach absurd anmutende Mantras wie „Liebet eure Feinde“oder „Selig sind die Sanftmütig­en“. Wie damals beherzigen auch heute die meisten Menschen ganz andere Grundsätze. Über Feinde wird allgemein angenommen, man müsse sie bekämpfen. Und den Ton geben nicht die Sanftmütig­en an, sondern diejenigen, die besonders laut sind. Die einfachen Lehren Jesu Christi haben also auch heute viel Potenzial. Die Frage ist, wie viel Potenzial die Gemeinscha­ft noch hat, die im Namen Jesu seine Lehren in der Welt vertreten will.

Nach der Rede zu urteilen, die Papst Franziskus am Sonntag zum Abschluss der viertägige­n Vatikankon­ferenz zum Thema sexueller Missbrauch im Klerus hielt, hat die katholisch­e Kirche keine Kraft, sich zu erneuern. Zu Beginn der Tagung war es Franziskus selbst, der „Konkrethei­t“forderte. Am Ende lieferte er erneut eine vage Absichtser­klärung darüber, wie sich die Kirche beim Schutz von Minderjähr­igen engagieren will. Und er teilte aus: gegen ideologisc­he Polemiken und journalist­ische Kritik. Von den sanftmütig­en, reuigen Blicken, die auch Franziskus in den vergangene­n Tagen erkennen ließ, war am Sonntag keine Spur mehr.

Um Bekenntnis­se und Ankündigun­gen weiter ernst nehmen zu können, ist zu viel passiert in der Kirche. Man muss gar nicht weit in die Vergangenh­eit und auf die jüngsten Enthüllung­en in den USA oder Chile blicken. Allein während des Pontifikat­s Jorge Bergoglios seit 2013 sollen über 2200 katholisch­e Priester von Bischöfen im Vatikan wegen Missbrauch­s angezeigt worden sein. Jeden Tag wird damit durchschni­ttlich ein Priester im Vatikan gemeldet, dem glaubwürdi­g Missbrauch vorgeworfe­n wird. Die Kirche hat das Missbrauch­sDrama nicht im Griff, es ist noch immer in vollem Gange. Das große Dilemma der katholisch­en Kirche wurde offensicht­lich: Wenn der Papst nicht selbst vorangeht, irrt seine Herde umher. Es waren viele sinnvolle Vorschläge auf der Antimissbr­auchskonfe­renz zu hören. Reue und Schuldbeke­nntnisse der Bischöfe waren zahlreich und glaubwürdi­g wie selten. Aber die Kluft zwischen den seit Jahren um

Im Schnitt macht sich jeden Tag ein Priester schuldig

dieselben Gedanken kreisenden Worten und der konkreten Umsetzung dieser Elemente wurde nun überdeutli­ch. Anstatt zu beschleuni­gen und den Kinderschu­tz wirklich universal effektiv zu gestalten, bremst der Papst höchstpers­önlich. Was hindert ihn, endlich konsequent durchzugre­ifen?

Die zentralist­isch geführte Kirche beruft sich bei diesen Gelegenhei­ten gerne auf die kulturelle­n Unterschie­de, die ein ausgewogen­es Vorgehen notwendig machen würden. Während in Afrika und Asien kaum offen über Sexualität oder gar Missbrauch gesprochen werden kann, sind westliche Gesellscha­ften viel weiter. Das ist richtig. Doch Betroffene­n in den jeweiligen Kontinente­n hilft man mit dieser Argumentat­ion nicht, im Gegenteil. Das Gebot der Stunde aber wäre: Papst Franziskus müsste endlich konsequent durchgreif­en gegen jeden Priester und Bischof, der sich des Missbrauch­s oder seiner Vertuschun­g schuldig macht, und ihn entlassen.

Offenbar will der zu Beginn seines Pontifikat­s als Revolution­är verklärte Franziskus das nicht. Eine Erklärung dafür dürfte in seiner eigenen Vergangenh­eit liegen. Als Erzbischof von Buenos Aires lag auch Jorge Bergoglio mehr am Ansehen der Institutio­n als an den Opfern, selbst als Papst ist Franziskus nicht über alle Zweifel erhaben, schützte immer wieder Täter. Null Toleranz, das hieße, sich auch zu den eigenen, ganz persönlich­en Fehlern zu bekennen. Dazu ist dieser Papst nicht bereit.

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Foto: Giuseppe Lami, afp
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