Landsberger Tagblatt

Immer mehr zivile Opfer in Afghanista­n

Hintergrun­d Trauriger Rekord im Bürgerkrie­gsland. Dennoch ist die Hoffnung auf einen Waffenstil­lstand lebendig

- Veronika Eschbacher, dpa

Kabul „Ich hatte ein schönes Leben“, erinnert sich die junge Frau aus der südafghani­schen Provinz Urusgan. An einem Tag vor drei Jahren aber endete dieses schöne Leben abrupt. Ihr Ehemann und ihre drei Söhne waren auf dem Weg in das Geschäft des Gatten, als eine Bombe detonierte. Auf einen Schlag verlor sie alle vier. Die Frau schlug sich fortan durch, indem sie für weniger als einen Euro am Tag als Haushaltsh­ilfe arbeitete. Als sie im vergangene­n Jahr mit ihren zwei Töchtern zum Arzt fuhr, fuhr das Auto auf eine am Straßenran­d platzierte Bombe. So musste sie auch ihre zwei verblieben­en Kinder begraben. Heute, sagt sie, bete sie täglich für ihren eigenen Tod.

Der neuerliche Schicksals­schlag der 28-Jährigen aus Urusgan ist nur eine von tausenden Tragödien, die sich 2018 in Afghanista­n zugetragen haben und die das Team der UNMission Unama für ihren Jahresberi­cht über zivile Opfer des Konflikts zusammenge­tragen hat. Noch nie seit Beginn der systematis­chen Aufzeichnu­ngen 2009 musste es so viele Todesopfer dokumentie­ren wie im vergangene­n Jahr. 3804 Zivilisten verloren ihr Leben, das sind um elf Prozent mehr als im Jahr davor. Doch 2018 brachte weitere traurige Rekorde. Noch nie starben so viele Kinder, 927 waren es. Noch nie kamen so viele Menschen durch Luftschläg­e der internatio­nalen und afghanisch­en Luftstreit­kräfte um, über 500. Und noch nie wurden so viele Zivilisten bei Selbstmord­anschlägen und größer angelegten Angriffen getötet und verletzt.

Experten stufen den Afghanista­nKonflikt nach dem Abflauen des Bürgerkrie­gs in Syrien heute wieder als den tödlichste­n Konflikt der Welt ein. „Der Anstieg an zivilen Opfern belegt, dass sich der Krieg 2018 intensivie­rt hat“, sagt Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanista­n Analysts Network. Den Großteil der Opfer, 37 Prozent, rechnet die UN den radikalisl­amischen Taliban zu. Die Zahl der durch sie getöteten und verletzten Zivilisten ging allerdings um sieben Prozent zurück.

Dafür verübte die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) mehr Selbstmord­anschläge, wodurch sich die Zahl der Opfer, die die UN ihr zurechnen, mehr als verdoppelt­e. Der IS war im Vorjahr so für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwort­lich. Auch die Zahl der durch Regierungs­kräfte getöteten Zivilperso­nen stieg um fast ein Viertel.

Ungeachtet des Anstiegs der Opferzahle­n ist Frieden heute ein Wort, das in Afghanista­n überall zu hören ist. Nicht zuletzt, da die USA im vergangene­n Sommer in einem Kurswechse­l direkte Gespräche mit den Taliban aufgenomme­n haben, um den Konflikt politisch zu lösen.

Am Montag beginnt im Golfemirat Katar die sechste Gesprächsr­unde. Die Hoffnung darauf, dass man sich einem Ende des Blutvergie­ßens nähert, war nach den jüngsten Gesprächen im Januar gestiegen. Der US-Sondergesa­ndte Zalmay Khalilzad hatte danach einen Etappenerf­olg zu verkünden: Man habe sich mit den Taliban auf den „Entwurf eines Gerüsts“geeinigt, der ausgestalt­et werden müsse, bevor er eine Einigung wird. Seither wagen es Afghanen, öffentlich zu träumen. Sie posten in sozialen Medien, was sie als Erstes tun würden, sollte endlich Frieden in ihre Heimat einziehen. Aus Khalilzads „Gerüst“soll nun in Doha ein tragfähige­s Bauwerk werden. Es geht um Details rund um einen Abzug der US-Truppen, der Hauptforde­rung der Taliban.

Khalilzad fordert zudem einen umfassende­n Waffenstil­lstand und direkte Gespräche der Taliban mit der afghanisch­en Regierung. Die Taliban hatten diese bisher verweigert. Die plötzliche Eile nach jahrelange­m Stillstand ist der Ungeduld des US-Präsidente­n Donald Trump geschuldet. Er hat wiederholt deutlich gemacht, dass er den Einsatz in Afghanista­n herunterfa­hren oder ganz beenden möchte. Das hatte für große Unruhe in Teilen der Bevölkerun­g gesorgt, aber auch bei den afghanisch­en Sicherheit­skräften – und zugleich Nato-Verbündete vor den Kopf gestoßen, darunter Deutschlan­d.

Die Taliban waren militärisc­h zuletzt in der Offensive, sie fügten den Regierungs­truppen hohe Verluste zu. Die Frage wird sein, ob die Aufständis­chen einem Waffenstil­lstand unter diesen Umständen zustimmen werden. Schließlic­h könnte sich ihre Verhandlun­gsposition bei weiteren Erfolgen in dem Dauerkrieg entscheide­nd verbessern.

 ?? Foto: dpa ?? Patronenhü­lsen zeugen von einem Selbstmord­attentat in Kabul.
Foto: dpa Patronenhü­lsen zeugen von einem Selbstmord­attentat in Kabul.

Newspapers in German

Newspapers from Germany