Landsberger Tagblatt

„Den Vögeln geht das Futter aus“

Ornitholog­e Peter Berthold empfiehlt, Vögeln das ganze Jahr über Fressen hinzustell­en. Denn viele finden allein nichts – und drohen zu verhungern

- Interview: Alexander Michel

Herr Berthold, Sie sagen: Vögel sollte man nicht nur im Winter, sondern das ganze Jahr über füttern. Warum?

Peter Berthold: Ganz einfach: Weil in unserer Landschaft den Vögeln das Futter allmählich ausgeht oder bereits ausgegange­n ist. Beispiel für fehlendes Winterfutt­er sind die Sämereien. Davon gab es früher sehr viele, weil an vielen Stellen Staudengew­ächse stehen geblieben sind – etwa in Hausgärten, an Wegrainen und auf Feldern, die nicht gepflügt waren. Damals gab es noch viele Wildkräute­r, die man heute flächendec­kend mit Herbiziden weggesprit­zt hat. Vor etwa 60 Jahren bestand in Deutschlan­d allein auf den Weizenfeld­ern der Bewuchs zu fünf Prozent aus Wildkräute­rn. Das waren rund eine Million Tonnen an Sämereien, die von kleinen Tieren wie Feldmäusen und Vögeln gefressen wurden. Und wie viel von diesen Sämereien gibt es heute? Berthold: Der Anteil liegt bei nahezu null Prozent. Das kommt einer Hungersnot für viele Vögel gleich. Berthold: Ja, viele Vögel sind verhungert und ausgestorb­en. Wir haben in Deutschlan­d seit dem Jahr 1800 rund 80 Prozent der damals vorkommend­en Vogel-Individuen verloren. Es ist also ein Bodensatz von 20 Prozent übrig geblieben, und dass davon viele verhungert sind, liegt nicht nur an fehlenden Sämereien, sondern auch am Mangel an Insekten. Alle Vögel mit dünnen Schnäbeln wie Meisen, Zaunkönige und Baumläufer sammeln Larven und Fluginsekt­en. In den vergangene­n 30 Jahren ist deren Masse aber um 80 Prozent geschrumpf­t. Mit welchen Folgen? Berthold: Manche Vogelarten kommen im Frühling aus Afrika zurück, beziehen hier einen Obstgarten und stellen fest, dass es so wenig zu fressen gibt, dass sie gar keine Eier mehr legen und Junge aufziehen können. Diese Population stirbt aus. Oder die Vögel legen zwar die Eier, haben aber kaum Futter für die Jungen. Da kann man mit einer Ganzjahres­fütterung sehr viel helfen. Welches Futter empfiehlt sich dafür? Berthold: Wenn es sich jemand einfach machen und nur ein Grundfutte­r anbieten will, sind Meisenknöd­el das Beste – gerade im Sommer. Im Juni und Juli werden von den Vögeln hundertmal mehr Meisenknöd­el gefressen als im Winter. Im Winter schieben die Vögel eine ruhige Kugel und warten auf den Frühling. Daher brauchen sie weniger Energie und müssen nicht viel fressen. Im Sommer sieht das ganz anders aus. Da dauert der Tag von 4 Uhr bis abends um 22 Uhr. Die Vögel fliegen viel, müssen Futter für die Jungen holen oder das Revier verteidige­n. Fliegen kostet 25-mal mehr Energie als das Hüpfen auf den Zweigen. Für Fliegen wird Fett verbrannt. Das Fett ist für die Vögel wie Flugbenzin fürs Flugzeug. Die Meisenknöd­el liefern das wichtige Fett. Können sich die Vögel an den Netzen der Knödel verletzen? Berthold: Das kommt vor, ist aber sehr selten. Wir empfehlen aber aus einem anderen Grund, die Plastiknet­ze, in denen die Knödel liegen, zu entfernen. Denn die Netze sind

praktisch für Elstern, Krähen oder auch Eichhörnch­en, die den ganzen Knödel im Netz gleich mitnehmen. Deshalb sollte der Meisenknöd­el in einem Futtergerä­t liegen, etwa einem Gittersilo. Viele Leute stellen auch gerne Futterhäus­chen auf. Auf was sollte man achten?

Berthold: Das Futterhaus sollte groß und geräumig sein, damit ein Vogel reinfliege­n kann. Auch für größere Vögel wie Eichelhähe­r und Ringeltaub­e sollte Platz sein. Kleine Vögel wollen freie Sicht haben, um zu sehen, ob sich nicht ein Sperber oder eine Katze versteckt hat und plötzlich um die Ecke biegt.

Es gibt auch Vogelfreun­de, die das Futter selbst anmischen. Was eignet sich dazu?

Berthold: Als Grundfutte­r empfehle ich ein Körner-Mischfutte­r, das für den Winter gut ist, und dazu ein Mischfutte­r, das einen hohen Anteil an Getreidefl­ocken enthält – je feiner, desto besser! Wem die Meisenknöd­el zu teuer sind, der könnte sich – wenn er große Mengen verarbeite­n will – über den Metzger einen Eimer Rindertalg besorgen. Die Körner-Talg-Mischung kann man langfristi­g vorbereite­n, weil Rindertalg nicht ranzig wird. Das kann man bis zu zwei Jahre aufbewahre­n. Der Talg wird in einem Topf erhitzt, dann kann man Haferflock­en und Körner dazugeben und alles in beliebige offene Gefäße füllen, etwa in Kokosnusss­chalen. Sparen kann man auch, wenn man Futterhafe­rflocken für Kaninchen und Meerschwei­nchen kauft und dazu ein wenig Sonnenblum­enöl oder ein anderes Speiseöl gibt. Da ist das ideale Futter für fast alle Vogelarten. Sind halbierte Äpfel sinnvoll? Berthold: Das ist auch gut, aber nur für ganz wenige Arten – etwa Amsel, Wacholderd­rossel und Grünspecht­e. Man muss ausprobier­en, ob überhaupt Vögel kommen, die Äpfel mögen. Denn Äpfel haben wenig Nährwert, weshalb Körnerfres­ser nie an einen Apfel gehen. Was ich schon beobachtet habe: Da herrscht tagelang Hochbetrie­b um das Futterhäus­chen – und plötzlich lässt sich tagelang kein Vogel blicken. Was könnte die Ursache dafür sein? Berthold: Da kann es viele Gründe geben, etwa dass die Katze vom Nachbarn einen Spatzen geholt hat. Wenn die anderen Vögel das mitbekomme­n, meiden sie erst einmal die Stelle. Was auch sein kann: Es ist mehrfach ein Sperber gekommen. Die jagen gerne um eine Futterstel­le. Auch dann wird sie von den Vögeln ein paar Tage gemieden. Sind das denn immer dieselben Vögel, die eine Futterstel­le anfliegen?

Berthold: Ich habe mal eine Beringung durchgefüh­rt, und das Ergebnis war außerorden­tlich. Wir haben in Stahringen (bei Radolfzell, Anm. d. Red.) an einem Tag in einem Garten 157 verschiede­ne Blaumeisen gezählt. An einer attraktive­n Stelle kann es sein, dass man an einem Tag fast tausend Vogelindiv­iduen zählt.

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Foto: stock.adobe.com Viele Vögel finden in der Natur kaum noch Nahrung. Vor allem im Frühling und Sommer, wenn sie brüten, wird das zum Problem für die Tiere.
 ??  ?? Peter Berthold, 79, leitete bis 2005 die Vogelwarte Radolfzell als Zweigstell­e des Max-Planck-Instituts für Ornitholog­ie.
Peter Berthold, 79, leitete bis 2005 die Vogelwarte Radolfzell als Zweigstell­e des Max-Planck-Instituts für Ornitholog­ie.

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