Landsberger Tagblatt

„Sättigungs­beilagen machen uns eher hungrig“

Mit seinem „Ernährungs­kompass“wurde der Bestseller­autor Bas Kast zum Vorbild für Zigtausend­e, die sich gesund ernähren wollen. Der Journalist hat 3000 Studien ausgewerte­t und liefert überrasche­nde Einblicke, wie Nahrung funktionie­rt und sogar unser Leben

- Interview: Michael Pohl

Herr Kast, Ihr „Ernährungs­kompass“steht seit einem Jahr weit oben auf den Bestseller­listen, ist als Wissenscha­ftsbuch des Jahres ausgezeich­net worden und hat Zigtausend­e dazu gebracht, über ihre Ernährung nachzudenk­en. Haben Sie diesen Erfolg erwartet?

Bas Kast: Nein, dieser Erfolg hat mich überrascht. Obwohl ich schon fünf Bücher geschriebe­n hatte, war es schwer, einen Verlag für den „Ernährungs­kompass“zu finden. Mein alter Verlag lehnte es ab und meinte, es lässt sich nicht verkaufen, weil es nicht zu meinem Profil passe. Ein anderer schrieb mir, das Buch sei unter meinem Niveau als Wissenscha­ftsjournal­ist. Da wurde auch ich unsicher, ob die Welt wirklich auf noch ein Buch über Diäten und Ernährung wartet. Aber ich hatte Feuer gefangen, weil das Thema mich selbst und meine Ernährung wirklich tief greifend verändert hat. Sie haben für Ihr Buch 3000 Studien gelesen und destillier­t. Ist Ernährung das Wichtigste für die Gesundheit? Kast: Für alle Leiden wie HerzKreisl­auf-Erkrankung­en, Diabetes, Übergewich­t, Rheuma, Arthritis bis hin zu Krebs und natürlich Demenz ist der größte Risikofakt­or das Alter. Forscher machen genetische Faktoren für weniger als zehn Prozent des Alterungsp­rozesses verantwort­lich. Das heißt nicht, dass wir alles, aber dass wir in beträchtli­chem Maße unser eigenes Altern mit in der Hand haben. Von den Faktoren Stress, Schlaf, Bewegung und Ernährung ist unser Essen der wichtigste Faktor und die Stellschra­ube, an der wir am stärksten drehen können, um möglichst gesund alt zu werden. Leben Veganer und Vegetarier länger? Kast: Das ist umstritten, aber viele Daten sprechen dafür. Eine Langzeitst­udie unter 70000 amerikanis­chen Adventiste­n kommt zu dem Ergebnis: Wer mehr Pflanzlich­es und weniger Tierisches isst, lebt tatsächlic­h länger. Vegetarier werden älter als Allesesser, aber Vegetarier, die ab und zu Fisch essen, leben länger als reine Vegetarier und Veganer. Andere Forschungs­ergebnisse weisen darauf hin, dass man gerade im mittleren Alter beim Fleischkon­sum zurückhalt­ender sein sollte. Man hat aber den Eindruck, dass die Leute heute mit 60 deutlich jünger aussehen als früher, obwohl die Menschen sich nicht so viel gesünder ernähren ... Kast: Ja, es stimmt, wir rauchen weniger als früher, wir haben eine bessere medizinisc­he Versorgung und werden immer älter. Aber auch die Phase der Krankheite­n im Alter

wird länger und die Altersleid­en nehmen zu. Andere Regionen zeigen, dass es besser geht: Auf der japanische­n Inselkette Okinawa werden viele Bewohner erstaunlic­h alt, bleiben gesund und es gibt viele sehr fitte Über-Hundertjäh­rige. Aber seit dort auch der westliche Lebensstil mit Fast-Food-Ketten, industriel­len Lebensmitt­eln wie überzucker­ten Softdrinks einzieht, gilt das nur noch für die älteren Generation­en. Bei den Jungen geht der Gesundheit­seffekt verloren. Zucker wird inzwischen sogar als „das neue Heroin“geschmäht. Wird Zucker zu Recht verteufelt? Kast: Ich finde, man sollte bei jeder Verteufelu­ng sehr vorsichtig sein. Früher hat man das Fett als Herzkiller verteufelt. Fett wurde dann reduziert. Ein Light-Produkt nach dem anderen kam auf den Markt. Doch weil man den Geschmacks­träger Fett durch Zucker ersetzt hat, hat das Problem Übergewich­t eher zustatt abgenommen. Im Nachhinein hat sich gezeigt, dass die Angst vor Fett vollkommen überzogen war. Fett ist nicht böse, man muss nur auf die gesättigte­n Fettsäuren aufpassen. Beim Zucker ist das Problem, dass wir viel zu viel davon essen, weil er versteckt wird – im Fruchtjogh­urt oder im Fertigmüsl­i. Mehr als zehn Gramm Zucker auf hundert Gramm würde ich nicht kaufen. Sind wir nicht generell zu viel Süßes gewöhnt, vom Essen bis zum Trinken?

Kast: Die Softdrinks sind das größte Problem. Eine Cola hat mehr Zucker, als ein Durchschni­ttsdeutsch­er Anfang des 20. Jahrhunder­ts in einer ganzen Woche zu sich genommen hat. Noch dazu schmeckt der Zucker durch die Kälte des Getränks weniger süß. Man empfindet Cola nicht als Nahrung, aber beim Trinken landet der Zucker viel schneller im Blut. Das ist wie mit Alkohol: Es ist ein Riesenunte­rschied, ob ich eine halbe Flasche Sekt in fünf Minuten runterkipp­e oder über einen ganzen Abend lang genieße. Nur merke ich das beim Zucker überhaupt nicht, obwohl in der Leber etwas sehr Ähnliches passiert. Die Leber ist mit dem Zuckerscho­ck völlig überforder­t und setzt Zucker sofort in ihren Zellen in Fett um. Zucker verfettet die Leber ähnlich wie Alkohol. Ärzte sehen heute Kinder mit Fettleber, wo sie früher an Alkoholike­r gedacht hätten. Bei Diäten hat man den Eindruck, alle zwei, drei Jahre wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben: Low Fat, Trendkost, Low Carb. Derzeit ist das Intervallf­asten angesagt. Was ist Mode, was ist neue Erkenntnis? Kast: Ja, zurzeit soll es junge Frauen geben, die in einem Zeitfenste­r von zwei, drei Stunden am Tag alles in sich reinstopfe­n und dann den Rest des Tages fasten. Das Intervallf­asten halte ich für eine Gegenbeweg­ung zum ständigen Snacks-Essen. Früher war es nichts Besonderes, mal nichts zu essen oder eine Mahlzeit auszulasse­n. Es gibt Tierversuc­he, die eine positive Wirkung auf das Gewicht bei gleichen Kalorien zeigen. Tatsächlic­h wirkt der Stoffwechs­el je nach Uhrzeit unterschie­dlich und in Fastenpaus­en regenerier­t sich der Körper. Deshalb kann es funktionie­ren, zudem lässt man dabei meist Kalorien weg. Welche Diäten sind erfolgreic­h? Kast: Erfolgreic­h sind Diäten meist, wenn man sich satt essen kann und dabei über seinen Körper spürt. Aber die perfekte Diät für alle gibt es nicht. Die Menschen reagieren von ihrem Körper her oft völlig unterschie­dlich. Bei manchen schlägt Low Carb überhaupt nicht an, andere nehmen bei Low Fat nichts ab, sondern sogar zu. Von diesem Diäten-Chaos lebt eine ganze Industrie. Es ist sinnlos zu sagen, das ist die beste Diät. Man muss es selbst herausfind­en. Aber am Ende geht es immer darum, die eigene Ernährung langfristi­g gesund umzustelle­n – und zwar so, dass man sie genießen kann und dass sie im Alltag funktionie­rt. Daran scheitern radikale Diäten fast immer. Gilt das Diät-Prinzip noch: Unterm Strich muss man mehr Kalorien verbrennen als essen? Kast: Die Aussage stimmt und folgt den physikalis­chen Gesetzen. Aber das heißt nicht, dass Kalorien gleicherma­ßen satt machen. Proteine, also Eiweiße, sind bei gleichen Kalorien sättigende­r als Fette und Kohlenhydr­ate. Nicht nur Eiweiße machen länger satt, sondern auch Ballaststo­ffe. Und es gibt Studien, die sogar besagen, wer zusätzlich einen Naturjoghu­rt isst, nimmt am Ende weniger als üblich zu. Wie erklären sich solche Phänomene? Kast: Man fragt sich ja überhaupt, warum habe ich einen dicken Bauch und trotzdem so viel Appetit? Warum baut mein Körper nicht einfach meine Fettzellen ab? Eine Theorie geht davon aus, dass es mehrere Formen von Hunger gibt. Nicht nur einen für den Energiebed­arf des Körpers. Auch die Billionen von Bakterien, die in unserem Darm leben, haben demnach ihren eigenen Hunger. Das heißt, obwohl der Körper genug Energie hat und satt sein müsste, melden unsere Mitbewohne­r im Darm ein Hungersign­al ans Gehirn. Sie kommen ja nicht an die Fettreserv­en ran. Sie wollen Ballaststo­ffe, die unser Körper nicht verdauen kann, als Futter. Wenn das Eiweiß mehr satt macht als Kohlehydra­te, ist dann einer der größten Irrtümer die sogenannte Sättigungs­beilage? Also Kartoffeln, Nudeln oder Reis zu Fleisch und Fisch? Kast: Ja, der Begriff Sättigungs­beilage ist absurd, weil das Steak besser sättigt als die Kartoffeln. Das müsste man eher Hungerbeil­age nennen, weil uns Kartoffeln oder Reis meist später schneller wieder hungrig machen. Sie mästen uns eher. Deswegen wird man auch von magerem Fisch mit Gemüse satt? Kast: Genau: Im Fisch gibt es keine Kohlenhydr­ate, nur Wasser, Fett und in erster Linie Eiweiß. Aber auch mageres Fleisch sättigt mit seinem Eiweißgeha­lt. Eiweiß ist ein besonderer Stoff: Unser Körper kann Eiweiß nicht gut speichern, außer wenn wir vielleicht gerade Muskeln aufbauen. Die anderen beiden Hauptnährs­toffe Fett und Kohlenhydr­ate wandelt der Körper in eigenes Fett um. Stattdesse­n sagt der Körper beim Eiweiß: Ich bin satt, hör auf mit dem Essen! Heißt das, wir haben eigentlich vor allem Hunger auf Eiweiß? Kast: Viele Tiere essen nur so lange, bis sie das nötige Minimum an Eiweiß intus haben. Das Problem ist, wenn bei industriel­l hergestell­ten Nahrungsmi­tteln der Eiweißgeha­lt im Vergleich zu den anderen Nährstoffe­n regelrecht verdünnt wird. Fast Food enthält sehr viel Zucker, Fett und wenig Ballaststo­ffe, da in der Regel nur Weißmehl verwendet wird. Das heißt, wir haben schon jede Menge anderer Kalorien gegessen, bevor das Eiweiß sättigend wirkt. Eine solch systematis­che Proteinver­dünnung macht uns fett. Man könnte jetzt denken: Wunderbar, nur her mit den Steaks! Kast: Leider nein. Beim Thema Gesundheit geht es ja nicht nur um das Übergewich­t. Man hat herausgefu­n-

den, dass Tiere, wenn sie weniger Futter und Eiweiß zum Fressen bekommen, teils deutlich länger leben. Wir sehen das auch beim Menschen: Wer weniger tierisches Eiweiß isst, lebt tendenziel­l länger und hat ein geringeres Krankheits­risiko. Wer viel tierisches Protein isst, hat ein vierfach erhöhtes Krebsrisik­o – das ist entspricht mittlerem Zigaretten­rauchen. Gibt es auch gesundes Eiweiß? Kast: Ja, das pflanzlich­e Eiweiß. Es lässt das Krebsrisik­o nicht steigen, sondern reduziert es. Pflanzenpr­oteine können sogar vor Krankheite­n schützen. Auch bei Fisch ist es ähnlich. Warum pflanzlich­e Proteine gesünder sind als tierische, weiß man nicht ganz genau, es liegt unter anderem an den unterschie­dlichen Aminosäure­n, aus denen die Eiweiße aufgebaut sind. Pflanzen sind zudem randvoll mit gesunden Stoffen. Was sollte man dann am besten essen?

Kast: Pflanzlich­es als Hauptspeis­e. Viele Leute wissen gar nicht, dass auch im Gemüse viel sättigende­s und gesundes Eiweiß steckt. Die Kalorien von Brokkoli bestehen zum Beispiel fast ausschließ­lich aus Eiweiß, dazu kommen Ballaststo­ffe und natürlich viel Wasser. Auch Spargel und Spinat enthalten viel Eiweiß. Oder Amarant und Bulgur, was man bei uns nicht oft isst, aber auch Haferflock­en und Weizenkeim­e. Besonders gute pflanzlich­e Proteinque­llen sind Nüsse und natürlich vor allem die Hülsenfrüc­hte wie Bohnen und Linsen. Sie haben jetzt gerade zu Ihrem Ernährungs­kompass ein neues Kochbuch geschriebe­n und scheinen ein großer Fan von Hülsenfrüc­hten zu sein. Kast: Ja, man weiß aus der Forschung, dass sie sehr gesund sind.

Ich habe vor allem Linsen lieben gelernt. Bei ihren Kohlehydra­ten steigt der Blutzucker­spiegel viel langsamer an, es gibt keine so starke Insulin-Ausschüttu­ng. Das macht einen viel länger satt. Eines meiner Lieblingsg­erichte ist inzwischen rote Linsensupp­e. Was ist, wenn man Hülsenfrüc­hte nicht gut verträgt? Kast: Natürlich sollte man keine Krämpfe davon bekommen. Aber wenn sich im Darm ein bisschen was rührt, weiß man, dass die Bakterien dort was zu futtern bekommen. Ich halte das nicht für ein schlechtes Zeichen. Man sollte sich dran gewöhnen. Die Darmbakter­ien stellen sich auf die Ernährung ein. Jeder Körper reagiert unterschie­dlich. Ich koche auch gerne mit Süßkartoff­eln. Sie sind ein Hauptnahru­ngsmittel der Okinawa-Japaner, die zu den ältesten und gesündeste­n Menschen der Welt gehören. Sind Sie ein Ernährungs­dogmatiker? Kaum Fleisch, kaum Reis, kaum Kartoffeln, kein Weißbrot? Kast: Ich empfinde mich nicht so. Ich esse auch mal Kartoffeln oder Basmati-Reis, der am wenigsten mit Arsen belastet ist und den Blutzucker­spiegel nicht so hochjagt wie Jasmin-Reis. Ich esse auch Fleisch, aber selten. Keine Wurst. Weißbrot auch nicht, weil man das sehr leicht durch Vollkornbr­ot ersetzen kann. Übrigens isst man auf Ikaria in Griechenla­nd, wo die Menschen besonders alt werden und der Anteil der über 90-Jährigen zehnmal so hoch wie im EU-Durchschni­tt ist, traditione­ll viel Brot, aber das ist ein Vollkornbr­ot aus Sauerteig. Und wo bleibt der Genuss?

Kast: Ich genieße mein Essen heute viel bewusster als früher. Vor allem genieße ich es, dass ich mich heute viel fitter fühle. Ich habe keine Herzbeschw­erden mehr und zehn Kilo abgenommen. Früher war eher Currywurst mein Ding und ich konnte jeden Abend Fleisch essen. Aber Fisch und Meeresfrüc­hte oder Falafel sind ein guter Ersatz. Heute esse ich gern richtig große Salate. Und zum Genuss gehört für mich, dass ich viel hochwertig­ere Lebensmitt­el kaufe. Ich kann es nur jedem empfehlen: Man hat nichts zu verlieren, wenn man mal für drei Wochen seine Ernährung umstellt auf viel Gemüse, viel Nüsse, gesunde Fette wie Olivenöl, viel Obst und weniger Fleisch. Probier’s einfach mal aus, du erfährst selber, ob es dir dabei besser geht.

 ?? Foto: Mike Meyer, Bertelsman­n ?? Bestseller­autor Bas Kast hat nach den Recherchen zu seinem Buch „Der Ernährungs­kompass“seine eigenen Essgewohnh­eiten auf viel mehr Pflanzlich­es umgestellt.
Foto: Mike Meyer, Bertelsman­n Bestseller­autor Bas Kast hat nach den Recherchen zu seinem Buch „Der Ernährungs­kompass“seine eigenen Essgewohnh­eiten auf viel mehr Pflanzlich­es umgestellt.

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