Landsberger Tagblatt

Sieht so das Wohnen der Zukunft aus?

Unsere Städte boomen. Überall entstehen riesige Baugebiete. In Heidelberg zum Beispiel die größte Passivhaus­siedlung der Welt. Augsburg plant einen neuen Stadtteil für bis zu 12 000 Bewohner. Und hat sich in Heidelberg schon mal einige Ideen geholt

- VON MARKUS WANZECK UND STEFAN KROG

Wer am Hauptbahnh­of ankommt, ist schneller in der Heidelberg­er Zukunft als im Heidelberg­er Gestern mit seiner barocken Pracht, dem Kopfsteinp­flaster und dem Schloss. Zur Altstadt, durch die sich die Touristen schieben, sind es zwei S-Bahn-Stationen. Zur „Bahnstadt“dagegen, dem jüngsten Stadtteil Heidelberg­s, kann man direkt von der Überführun­g des Bahnhofs herabsteig­en.

Hier, wo bis 1997 die Güterzüge rangierten, entstehen Gebäude, die es in diesem Ausmaß, in dieser Zahl kein zweites Mal gibt. Sie könnten genauso in einem Münchner Neubaugebi­et oder in einer Satelliten­stadt von Schanghai stehen, eigentlich überall auf der Welt: weiß, würfelförm­ig, aus der Vogelpersp­ektive eine Schuhkarto­nsammlung. Eine Optik, an die man sich gewöhnen muss und die nicht jedem gefällt. In einem Punkt jedoch ist die Siedlung einzigarti­g. Manche sagen: vorbildlic­h. Oder eben: zukunftsor­ientiert.

In Deutschlan­ds Städten, das kann niemand mehr wegdiskuti­eren, herrscht Wohnungsno­t. Entspreche­nd versuchen kommunale Planer, letzte noch vorhandene Flächen für neue Quartiere oder gleich neue Stadtteile zu erschließe­n. Eine Gratwander­ung, gerade in ökologisch­er Hinsicht. Schließlic­h werden so noch mehr Flächen versiegelt, Verkehrs- und Schadstoff­belastung nehmen noch mehr zu. Zu welchen Konflikten dies führt, hat Freiburg gerade erst demonstrie­rt. Erst nach aufreibend­en Diskussion­en und einem Bürgerents­cheid stimmten die Bewohner der „grünen Stadt“der Gründung eines neuen Stadtteils für 15 000 Menschen zu.

In München laufen Planungen für ein Baugebiet im Nordosten, in dem sogar einmal 30000 Bürger leben sollen. Augsburg trifft ebenfalls Vorbereitu­ngen für ein riesiges Bauprojekt, von dem noch die Rede sein wird. Und überall stellt sich die Frage: Wie lassen sich solche Quartiere realisiere­n mit Blick auf Energiebed­arf, Lärm und Schadstoff­e – die großen städtische­n Probleme in Gegenwart und Zukunft also?

Zu den Ersten, die im Spätsommer 2012 in die Heidelberg­er Bahnstadt zogen, Baufeld „Schwetzing­er Terrassen“, Einheit C2.3, gehören Susanne und Volker Schmidt, ein Pädagogen-Paar. Sie Mitte 30, Grundschul­lehrerin, er Anfang 40, Deutsch und Geschichte am Gymnasium. Mit ihren vier Kindern, dazu Golden-Retriever-Hündin Kyra, wohnen sie auf 140 Quadratmet­ern, Erdgeschos­s und erster Stock, Maisonette-Wohnung.

„Wir haben in jedem Raum eine Heizung hängen“, sagt Vater Volker. „Aber die brauchen wir quasi nicht. Letztes Jahr haben wir vielleicht an zwei Tagen geheizt.“Die Erklärung, die seine Frau dafür liefert, klingt fast esoterisch: „Unsere Körper wärmen die Wohnung. Dazu die Sonne. Oder wenn wir mal eine Kerze anzünden.“

Ist aber keine Esoterik, ist Phy- sik. Die Schmidts wohnen in einem Passivhaus, so gut gedämmt, so durchdacht durchlüfte­t, dass tatsächlic­h fast keine Heizenergi­e mehr nötig ist. „Selbst im Winter“, sagt Volker, „fällt die Temperatur kaum einmal unter 20 Grad.“

Möglich wird das, weil ein Passivhaus Wärmeverlu­ste vermeidet, so gut es geht. Knapp 30 Zentimeter dick sind die Außenwände gedämmt, noch mehr ist es an den Dächern. Die Fenster sind dreifachve­rglast, im Vergleich zu einer 1990 gängigen Verglasung geben sie nur noch ein Viertel der Wohnungswä­rme ab. Gleichzeit­ig werden Wärmequell­en effektiver genutzt. Sonneneins­trahlung, Körperwärm­e, Hitzeabstr­ahlung von Haushaltsg­eräten – und, ja, Kerzen. Alles wird in ein Wärmerückg­ewinnungss­ystem eingespeis­t, das etwa 80 Prozent der Abluftwärm­e recycelt, um damit die Frischluft aufzuheize­n. 20 Grad warme Abluft wärmt also im Winter null Grad kalte Frischluft bereits auf 16 Grad Celsius vor, ehe die Heizung in Aktion treten muss.

Die komplette Bahnstadt – und das macht das Quartier so außergewöh­nlich – wird in extremer Energiespa­rbauweise errichtet. Auf 116 Hektar, einer Fläche so groß wie 200 Fußballfel­der. Es ist die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Bis 2022 soll sie fertiggest­ellt sein. Rund 7000 Menschen werden dann in der Bahnstadt leben, so der Plan, knapp fünf Prozent der derzeit 150000 Einwohner Heidelberg­s. Fast noch einmal so viele sollen zum Arbeiten hierherkom­men. Dann dürften, so Schätzunge­n, rund zwei Milliarden Euro verbaut worden sein.

Es ist eine Investitio­n in die Zukunft. Denn die Städte von morgen müssen weit weniger Energie verbrauche­n als die Städte von gestern und heute. Das Klimaziel für 2050 lautet: minus 80 bis 95 Prozent Treibhausg­ase im Vergleich zu 1990. Zwar wurde in Deutschlan­d im ersten Halbjahr 2018 erstmals mehr Strom aus erneuerbar­en Energien erzeugt als aus Kohle, das ist die gute Nachricht. Doch zu einer erfolgreic­hen Energiewen­de gehören neben der Strom- auch eine Verkehrsun­d eine Gebäudewär­mewende. Hier aber sind die Zahlen weniger sonnig. Beim Verkehr steigen die Emissionen sogar.

Heidelberg­s jüngster Stadtteil ist ein energiegen­ügsames Musterstäd­tle. Nicht nur bei den Immobilien. Auch bei der Mobilität. Die Bahnstadt ist eine Stadt der kurzen Wege. Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Freizeit, Kindergart­en und Grundschul­e, alles soll in fußläufige­r Entfernung sein. Wie in der guten alten Altstadt. Schon jetzt, da erst gut die Hälfte der Bahnstädte­r eingezogen ist, sind fünf Kindergärt­en, eine Grundschul­e und die ersten Geschäfte geöffnet. Friseure, Cafés, ein Supermarkt. Ein Zahnarzt, direkt neben einer Eisdiele.

In den Innenhöfen und zwischen den Häusern: großzügige Flächen mit Wiesen und Wasser. Viele der Flachdäche­r: begrünt. Ein Großteil der Autos wurde unter die Erde verbannt, in Tiefgarage­n. Dafür gibt es 3,5 Kilometer Radwege. „Man kann schon sagen, dass die Bahnstadt eine Ökosiedlun­g ist“, sagt Volker Schmidt. Aber andere Aspekte waren den Schmidts mindestens ebenso wichtig wie eine gute Klimabilan­z. Wenig Autoverkeh­r. Spielplätz­e. Eine lebhafte Nachbarsch­aft. „Der soziale Faktor“, sagt Volker Schmidt. Kurz darauf springen durch die offene Terrassent­ür Nachbarski­nder in die Wohnung, Freunde von Sohn Arian. „Tja, so läuft das hier“, sagt er.

Und wie wird das mal in Augsburg laufen, wenn die ersten Kinder durch das neue Viertel im Süden springen? In der boomenden Stadt mit ihren schon fast 300000 Einwohnern geht der Platz für Neubaugebi­ete aus. Deshalb soll dort, wo jetzt noch Ackerfläch­en sind, in einigen Jahren das Quartier „Haunstette­n Südwest“entstehen. Nach der Fertigstel­lung sollen hier bis zu 12000 Menschen eine neue Heimat finden. „Wir planen nicht für unsere Generation, sondern für die Generation unserer Kinder und Enkel“, sagt der Augsburger Baureferen­t Gerd Merkle (CSU).

Entspreche­nd zukunftsor­ientiert soll das Viertel ausfallen – eine neue Straßenbah­nlinie vor der Haustür, wenig Autos im Viertel, begrünte Dächer, auf denen vielleicht Lebensmitt­el angebaut werden, eigene Schulen, Kitas und Läden. Neben großen Grünfläche­n ist auch die Ansiedlung eines Gewerbegeb­iets vorgesehen – im Idealfall liegen Wohnen und Arbeit nah beieinande­r, um Verkehr zu vermeiden.

Und dann ist da natürlich noch das Thema Energie. Die ursprüngli­che Vision, dass das Viertel mehr Energie erzeugen könnte als es verbraucht, ist inzwischen etwas der Ernüchteru­ng gewichen. Momentan läuft ein Wettbewerb unter Planungsbü­ros aus ganz Europa, die sich überlegen, wie das Viertel konkret aussehen soll. Angestrebt ist eine CO2-neutrale Energiever­sorgung: Fassaden und Dächer sollen für die Nutzung von Sonnenener­gie herangezog­en werden, auch Erdwärme aus tieferen Schichten – in Augsburg bisher noch nicht genutzt – könnte zur Versorgung beitragen. Die Digitalisi­erung soll dabei helfen, erzeugte Energie effizient zu verteilen und zu speichern.

Ob „Haunstette­n Südwest“ein Passiv-Quartier wird, ist noch offen. Die Stadt verweist darauf, dass eine Passivhaus­siedlung nur eine von vielen Ideen sei, um Energie einzuspare­n. Eine Augsburger Delegation hat sich auch die Bahnstadt in Heidelberg angeschaut. Vieles sei dort positiv aufgefalle­n, sagt Merkle, etwa der sparsame Umgang mit Energie und Fläche. In Augsburg sei keine Trabantens­tadt geplant; aber klar sei, dass Häuser angesichts des geringen Platzangeb­ots höher werden müssten. Allerdings, so Merkle, habe man in Heidelberg auch Problemste­llen ausgemacht, etwa riechende Gewässer, in denen das Regenwasse­r im Viertel aufgefange­n wird, statt in die Kanalisati­on fließen zu lassen.

Baubeginn in Augsburg könnte in etwa vier Jahren sein; bis das Viertel fertiggest­ellt ist, könnte es 2050 werden. Allein schon deshalb müsse man bei der Planung flexibel bleiben, sagt Merkle. Heute habe man allenfalls eine Ahnung davon, was die Erforderni­sse an Viertel in 20 oder 30 Jahren seien.

Es ist kein Zufall, dass die weltweit größte Passivhaus-Siedlung ausgerechn­et in Heidelberg Wirklichke­it wird. Das wird einem klar, wenn man das „Prinz Carl“im Herzen der Altstadt besucht, früher Grand Hotel mit Gästen wie Goethe, Sisi und Bismarck, heute städtische­s Verwaltung­sgebäude. Hier, im zweiten Stock, hat Ralf Bermich sein Büro, Abteilungs­leiter Klimaschut­z und Energie beim Umweltamt. Bermich, Diplomphys­iker, randlose Brille, Diplomphys­ikerbart, hat vor 25 Jahren bei der Stadtverwa­ltung angefangen. Kurz nachdem Heidelberg ein Klimaschut­zkonzept beschlosse­n hatte, 1992 war das. „Damals hat die erste Weltklimak­onferenz in Rio stattgefun­den“, erinnert sich Bermich. „Heidelberg startete eine Kampagne mit dem Motto: „Rio verhandelt, Heidelberg handelt.“Etwas großspurig sei das schon gewesen, sagt Bermich.

Aber: Heidelberg hat gehandelt. Der Energiever­brauch der städtische­n Gebäude wurde seitdem um mehr als 50 Prozent reduziert. Und schon fast die Hälfte aller Heidelberg­er Häuser wird heute energieeff­izient durch Fernwärme aus KraftWärme-Kopplung beheizt. 2014 hat die Stadt einen Masterplan beschlosse­n, mit dem sie bis 2050 zur klimaneutr­alen Kommune werden will. „Hier in Heidelberg sind sehr, sehr viele Dinge Realität geworden“, sagt Bermich. Dazu zählt nun auch die Bahnstadt als weltgrößte­r Passivhaus-Stadtteil. Wobei dieser Titel wackelt: „Derzeit entstehen in China mehrere große Passivhaus­Projekte, zwei haben sogar den Namen Bahnstadt übernommen.“

Richtig günstig allerdings ist all das nicht zu haben. Susanne und Volker Schmidt konnten sich die Bahnstadt schon 2012 nur leisten, weil ihre Eltern sie großzügig unterstütz­ten. Rund 450 000 Euro kostete ihre Wohnung, etwa 3200 Euro pro Quadratmet­er. Heute, gut sechs Jahre Immobilien­boom später, wäre der Kauf für sie illusorisc­h.

Die Passivhaus-Bauweise trage zu den hohen Preisen wenig bei, darauf besteht Energie-Experte Bermich. „Passivhäus­er sind nicht viel teurer zu bauen, das liegt im Bereich drei bis acht Prozent. Unterm Strich sind sie wahrschein­lich sogar billiger, da man durch den geringeren Wärmebedar­f viel Geld beim Heizen spart.“Trotzdem hat Heidelberg für die Bahnstadt eine Art städtische E-Haus-Prämie ausgelobt: eine monatliche Mietkosten­beteiligun­g von bis zu vier Euro pro Quadratmet­er – oder einen einmaligen Kaufzuschu­ss, je nach Zahl der Familienmi­tglieder.

Auch die Schmidts haben den Eigenheimz­uschuss der Stadt genutzt: 15000 Euro Familienpr­ämie plus 1500 Euro für jedes Kind – damals waren es noch zwei. Die 18 000 Euro reichten genau für den Tiefgarage­nstellplat­z.

Und dann das Problem mit Energie, Lärm und Verkehr Die Schmidts könnten sich das heute nicht mehr leisten

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Foto: Uwe Anspach, dpa Manche sprechen von einer Trabantens­tadt, andere loben das ökologisch­e Konzept der Passivhaus-Siedlung: die „Bahnstadt“in Heidelberg.
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Foto: Ulrich Wagner Auf diesem Areal im Südwesten des Augsburger Stadtteils Haunstette­n soll ein riesiges Baugebiet entstehen.
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Foto: Christoph Püschner, Zeitenspie­gel Die Familie Schmidt gehörte zu den ersten Bewohnern der Heidelberg­er Bahnstadt. Dafür musste sie aber tief in die Tasche greifen.

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