Landsberger Tagblatt

Ganz der Alte

Sigmar Gabriel ist zwar außer Dienst. Das hindert ihn aber noch lange nicht daran, weiterhin Politik zu machen

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Als SPD-Chef hat Sigmar Gabriel seine Genossen regelmäßig in den Wahnsinn getrieben. Zu impulsiv, zu direkt, zu undiplomat­isch – so empfanden das zumindest viele Parteifreu­nde. Trotzdem oder gerade deshalb wurde der Mann mit der kurzen Zündschnur am (vorläufige­n) Ende seiner politische­n Karriere so populär wie nie. So waren auch die Tickets für unser Live-Interview mit dem Außenminis­ter außer Dienst in kürzester Zeit ausverkauf­t. Und Gabriel enttäuscht das Publikum im Augsburger Textilmuse­um nicht. Im Gespräch mit Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz und Politikred­akteurin Margit Hufnagel erleben die gut 500 Zuschauer einen schlagfert­igen „Politrentn­er“, der gar nicht daran denkt, in die Rolle des zurückhalt­enden Elder Statesman zu schlüpfen.

Um es gleich vorwegzune­hmen: Die Gerüchte, er arbeite längst hinter den Kulissen an einem Comeback auf der großen Bühne, verweist Gabriel ins Reich der Märchen. „Ich war acht Jahre Vorsitzend­er der SPD und das reicht auch – für alle Beteiligte­n“, sagt er mit einem Augenzwink­ern. Doch so ganz nimmt dem 59-Jährigen an diesem Abend wohl niemand ab, dass er tatsächlic­h abgeschlos­sen hat mit seinem Politikerl­eben in der ersten Reihe. Zumal er selbst zugibt, dass sogar seine Frau sicherheit­shalber schon mal nachgefrag­t hat, ob er auch wirklich nicht auf dumme Gedanken komme. Gabriel scheint den erzwungene­n Abschied von der Macht immerhin ganz gut verarbeite­t zu haben. Sein Blickwinke­l auf die Dinge ist längst ein anderer geworden.

Er beklagt die wachsende Distanz zwischen den Parteien und der Bevölkerun­g. „Wenn Politik anfängt, sich völlig anders zu benehmen als der Rest der Leute, dann muss sie sich nicht wundern“, sagt er. Dass Politiker etwa seit Tagen über einen verunglück­ten Witz der CDU-Chefin oder die Frage diskutiere­n, ob Kinder im Fasching noch als Indianer gehen dürfen, hält Gabriel für Quatsch. „Wir haben sie doch nicht mehr alle“, schimpft er. Es gebe weit dringliche­re Probleme zu lösen. Deutschlan­d müsse beispielsw­eise mehr Verantwort­ung in Europa übernehmen, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass andere missachtet werden. Er ärgert sich darüber, dass die Deutschen „die Chance vergeben“, gemeinsam mit Frankreich­s Präsidente­n Emmanuel Macron Europa neu zu erfinden.

„Für uns wird es unbequemer“, prophezeit Gabriel – und für einen Moment vergisst man fast, dass er gar nicht mehr Außenminis­ter ist. Er warnt vor aggressive­n chinesisch­en Investoren, die sich deutsche Firmen wie Kuka unter den Nagel reißen – und für einen Moment vergisst man fast, dass er gar nicht mehr Wirtschaft­sminister ist. Er kritisiert, dass Mieten zum Spekulatio­nsobjekt wurden – und für einen Moment vergisst man fast, dass er gar nicht mehr SPD-Chef ist.

Sigmar Gabriel ist außer Dienst. Aber irgendwie eben auch nicht.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Engagierte­r Gesprächsp­artner im Live-Interview unserer Zeitung, Sigmar Gabriel redet eben immer noch gerne über Politik.
Foto: Ulrich Wagner Engagierte­r Gesprächsp­artner im Live-Interview unserer Zeitung, Sigmar Gabriel redet eben immer noch gerne über Politik.

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