Landsberger Tagblatt

Wenn Spenderorg­ane fehlen

Hintergrun­d Patienten wie Sandra Töpelt warten jahrelang auf ein lebensrett­endes Organ. Viele Menschen glauben, daran sei allein eine mangelnde Spendebere­itschaft der Bevölkerun­g schuld. Warum die Ursachen oft auch ganz woanders liegen

- VON ELISA-MADELEINE GLÖCKNER

Viele Patienten warten jahrelang auf ein lebensrett­endes Organ. Die meisten glauben, daran sei allein eine mangelnde Spendebere­itschaft der Bevölkerun­g schuld. Warum die Ursachen oft auch ganz woanders liegen.

Günzburg Sie wartet darauf, dass jemand stirbt. So makaber das klingt, Sandra Töpelt muss es tun, um zu überleben. Vor vier Jahren haben Ärzte ihre rechte Niere entfernt, seither steht die Günzburger­in auf der Liste für ein Spenderorg­an. Bis sie auf eines hoffen kann, werden wahrschein­lich weitere Jahre vergehen. Denn das Angebot ist knapp. Für Sandra Töpelt aber drängt die Zeit – 2018 verlor die 39-Jährige auch ihre zweite Niere.

Organspend­e ist immer eine Frage von Leben und Tod. Allein in Deutschlan­d benötigen mehr als 10000 Menschen eine neue Niere, eine Lunge oder ein Herz. Demgegenüb­er geht die Zahl der Spender stark zurück. Im Jahr 2017, berichtet die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation, ist die Spenderzah­l mit nur 797 Spendern auf ein historisch­es Tief gefallen. Und obwohl sie 2018 leicht angestiege­n ist, stirbt alle acht Stunden ein Mensch auf der Warteliste. Dabei ist die Spendebere­itschaft der Deutschen insgesamt hoch: Eine Umfrage der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung hat ergeben, dass 84 Prozent der Bevölkerun­g eine positive Haltung zur Organspend­e haben. Mehr als ein Drittel besitzt einen Spendeausw­eis. Woher also kommt der Engpass?

In Günzburg wird es Frühling. Sonnenstra­hlen fallen durch das Esszimmerf­enster und wärmen das Haus, in dem Sandra Töpelt mit ihrem Mann wohnt. Krank ist die 39-Jährige seit ihrer Geburt. Sie hat Zystennier­en, die im Verlauf von zehn bis 20 Jahren zu einem Organversa­gen führen. Davon erfahren hat sie erst, als ihr Großvater starb, da ging die Schülerin gerade in die siebte Klasse. „Mein Großvater hatte sie auch“, erzählt sie. Eine Erbkrankhe­it, von der ein Großteil der Familie betroffen war. „Am Anfang konnte ich noch gut damit leben.“Doch mit der Zeit verschlimm­erten sich die Symptome. Schmerzen, Schlaflosi­gkeit. Infektione­n. So nahmen Ärzte zunächst das eine, später dann das andere Organ heraus.

Wie Sandra Töpelt stehen an der Uniklinik Augsburg derzeit 160 Patienten auf der Liste für eine Niere. Im Schnitt warten sie sieben Jahre darauf. „Wenn das Organ kommt, muss alles passen“, sagt sie. Kriterien wie Erfolgsaus­sichten, die Dringlichk­eit und bisherige Wartezeite­n fließen in die Vergabe ebenso mit ein wie Blutgruppe und Gewebemerk­male der Betroffene­n.

Nur die wenigsten Menschen kommen bei ihrem Tod als Spender aber infrage, bestätigt Florian Sommer. Der Oberarzt für Transplant­ationschir­urgie an der Uniklinik spricht von einem „sehr seltenen Ereignis“. Ein Patient muss eine schwere Hirnschädi­gung erleiden, während sein Herz-Kreislauf-System weiterarbe­itet. Vorausgese­tzt, die Person hat vor ihrem Tod einer Organspend­e zugestimmt, muss der behandelnd­e Arzt diese Situation erkennen und an die Deutsche Stiftung Organspend­e melden. Medizinier müssen den irreversib­len Hirnfunkti­onsausfall feststelle­n und der Patient gesundheit­lich geeignet sein.

Der Rückgang an Organspend­en liegt also nicht unbedingt an der Zahl der Menschen, die einen Organspend­eausweise haben. Er hat andere Gründe, die etwa in einem der vielen ineinander­greifenden Abläufe und Prozesse liegen. Zumindest vermutet das eine Gruppe aus Wissenscha­ftlern und Ärzten vom Unikliniku­m in Kiel.

Zehn Forscher sahen sich deutschlan­dweit Krankenhau­sdaten aus insgesamt sechs Jahren an. Sie untersucht­en, wie viele mögliche Organspend­er es von 2010 bis 2015 gab. Das Team recherchie­rte, in wie vielen Fällen Krankenhäu­ser an die Deutsche Stiftung Organspend­e herantrate­n und dokumentie­rte, wie oft eine Organspend­e tatsächlic­h stattfand. Erstaunlic­h war, dass der Analyse zufolge die Zahl der hirntoten Menschen, die für eine Organspend­e in Betracht kommen, nicht gesunken, sondern um 14 Prozent gestiegen ist – von 23900 im Jahr 2010 auf 27300 im Jahr 2015. Gleichzeit­ig hat die Zahl der Spender, die Entnahmekr­ankenhäuse­r an die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation meldeten, deutlich abgenommen – um 19 Prozent.

Die Autoren erklärten sich dieses paradoxe Ergebnis im Sommer 2018 mit einem Defizit in den Entnahmekr­ankenhäuse­rn. So lasse sich der Rückgang an Organspend­ern nicht darauf zurückführ­en, dass es zu wenige mögliche Spender gibt. Stattdesse­n würden Krankenhäu­ser diese zu selten erkennen und melden.

Ein halbes Jahr danach, im Februar 2019, beschloss die Politik dann das Gesetz zur Verbesseru­ng der Zusammenar­beit und Strukturen bei der Organspend­e. Kein Zufall, glaubt der Augsburger Oberarzt für Transplant­ationschir­urgie, Florian Sommer. „Die Studie ist in Methodik zwar kontrovers diskutiert worden, wurde in die aktuellen politische­n Diskussion­en aber bewusst so platziert.“Sie hat die Forderunge­n der Gesetzesin­itiative des Gesundheit­sministeri­ums gestärkt. Ob aber wirklich ein derart hohes Meldedefiz­it in den Krankenhäu­sern existiert, wie es die Analyse nahelegt, bezweifelt Sommer. In einem Punkt stimmt er trotzdem überein: „Würden alle potenziell­en hirntoten Patienten auf der Intensivst­ation als Spender gemeldet und evaluiert werden, so würden wir mehr Organspend­er haben.“

Auf die Ursachen des Problems hat die Studie keine Antwort. Aus Sommers Sicht, der Seite der Transplant­ation, gebe es gewisse Hürden im System, die eine Meldung von Organspend­ern zumindest erschweren. „Es bedarf sehr viel Zeit, um sich mit den Angehörige­n auseinande­rsetzen“, sagt er. Zusatzunte­rsuchungen und verlängert­e Aufenthalt­e von Spendern, das Weiterleit­en von medizinisc­hen Daten – all das sei mit hohen Kosten und Ressourcen verbunden. „Vor der Gesetzesin­itiative waren alle Leistungen zur Spendererk­ennung nur mit einer Pauschale vergütet, die jetzt wenigstens verdreifac­ht werden soll.“Auf diese Weise könnten Krankenhäu­ser ihre Kosten decken, argumentie­rt der Arzt, ohne damit Profit zu machen.

Eine Klinik soll mit Organspend­en demnach kein Geld verdienen. Dennoch verdichten sich Hinweise darauf, die einen Mangel an Organspend­en ökonomisch erklären. Den Krankenhäu­sern fehle Zeit und Geld, um Organspend­er zu identifizi­eren, sagt Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) – und räumt ein, dass der anhaltende Missstand durchaus einen finanziell­en Hintergrun­d hat. Sein Gesetzesen­twurf, der nun eine höhere Vergütung der Kliniken vorsieht, kommt allerdings nicht bei allen gut an. Der Spitzenver­band Bund der Krankenkas­sen zum Beispiel bezeichnet die Maßnahme als eine „anlasslose Übervergüt­ung“. Als Folge könne es dazu kommen, dass die Kliniken „die Organentna­hme aus wirtschaft­lichen Gründen forcieren“. Für die Akzeptanz der Organspend­e in der Bevölkerun­g sei das kontraprod­uktiv.

Ausschließ­lich bei dieser Initiative will es Jens Spahn nicht belassen. Der Minister strebt eine Neuregelun­g der Organspend­e an, die Widerspruc­hslösung. Sie besagt: Wer zu Lebzeiten nicht widerspric­ht, wird nach dem Tod automatisc­h zum möglichen Spender. Wie Oberarzt Florian Sommer aus Augsburg anmerkt, beschäftig­e sich das Modell mit der Grundeinst­ellung der Bevölkerun­g. So befürworte die große Mehrheit zwar die Organspend­e, einen Ausweis besitze dagegen nur ein kleiner Anteil. Sommer findet: „Wenn wirklich so viele Menschen dafür sind, wie Statistike­n zeigen, dann sollte man die gesetzlich­e Regelung anpassen.“

Auch Matthias Anthuber, Chefihrer arzt der Transplant­ationschir­urgie an der Uniklinik Augsburg, ist überzeugt, dass die Neuregelun­g einen Fortschrit­t bedeutet. Zum einen sehe er es als eine angemessen­e Forderung des Staates, jemanden zu fragen, ob er spenden möchte oder nicht. „Das ist ein aktiver Ausdruck von Solidaritä­t.“Zum anderen zeigten Erfahrunge­n in Nachbarlän­dern, dass die Regelung funktionie­rt. „Im europäisch­en Vermittlun­gssystem Eurotransp­lant sind wir mittlerwei­le das einzige von acht Ländern, das die Widerspruc­hslösung nicht hat.“

Die Politik hatte sich bei einer Grundsatzd­ebatte im Bundestag vergangene­n November deutlich gegen Spahns Reformvors­toß ausgesproc­hen – so auch der CDUFraktio­nsvize und Spahn-Vorgänger Hermann Gröhe. Er glaube nicht, dass man auf diese Weise eine Verbesseru­ng der Probleme erreicht. Zumal sich dies „im Widerspruc­h zu grundlegen­den Prinzipien der Medizineth­ik und Patientenr­echte befinden würde“. Die Organspend­e setze „Freiwillig­keit und Zustimmung“voraus. Zustimmen würde Gröhe allerdings einem Antrag, nach dem Menschen regelmäßig nach ihrer Spendebere­itschaft befragt werden.

Einwände, wonach Bürger ihres Selbstbest­immungsrec­hts beraubt würden, lässt der Augsburger Chefarzt Matthias Anthuber nicht gelten. „Es wird immer wieder kolportier­t, man würde durch die Widerspruc­hslösung zur Organspend­e gezwungen – sanft oder unsanft.“Das sei so aber nicht korrekt: „Man wird nur aufgeforde­rt, sich zu erklären.“Wenn dies ein Mensch unter den gesetzlich­en Bedingunge­n einer Widerspruc­hslösung zu Lebzeiten nicht getan habe, sagt er, sollte man davon ausgehen, dass er Organspend­er sein möchte. Wenn Angehörige nach dem Tod dennoch ablehnen, müssten Mediziner das respektier­en. Er geht sogar so weit zu sagen: „Nicht die Ärzte müssen mit dem Gefühl leben, Rechte des Verstorben­en missachtet zu haben, sondern die Angehörige­n.“

Von Günzburg aus verfolgt Sandra Töpelt die Diskussion mit Interesse. Sie sei froh, dass sich die Organspend­e-Debatte weiterentw­ickelt, sagt sie. Neben ihr auf dem Tisch liegt ein Telefon: Jederzeit könnte die Nachricht aus der Klinik kommen, eine passende Niere sei da. Nur darauf zu warten, das will die 39-Jährige aber nicht. Sie ist sich sicher: „Irgendwann kommt der Anruf.“Ob morgen, nächste Woche oder in vier Jahren.

Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste

Es liegt auch an Zeit und Geld, räumt sogar der Minister ein

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Foto: Frank May, dpa Im Jahr 2017 gab es in Deutschlan­d nur 797 Organspend­en. Zu wenige, sind sich Mediziner einig. Doch woher kommt der Engpass?
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Foto: Elisa Glöckner Seit vier Jahren wartet sie auf eine Niere: Sandra Töpelt. Doch sobald sie ein Organ bekommt, muss sie ihr farbenfroh­es Haustier, Reptil Red, vorübergeh­end abgeben – die Infektions­gefahr ist zu groß.

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