Landsberger Tagblatt

Schlachtfe­ld der Malerei

Ausstellun­g Im Lechner Museum von Ingolstadt wird das einzige erhaltene Gesamtwerk der Schütt-Aktionen von Hermann Nitsch gezeigt. Der österreich­ische Künstler ist so berühmt wie berüchtigt

- VON MICHAEL SCHREINER

Ingolstadt Rot flutet den Raum. Rot rinnt von den Wänden, rote Farbpfütze­n bedecken den Boden. Es spritzt und tropft und schwimmt blutrot vor den Augen. Ein Schlachtfe­ld der Malerei, ein rotes Gewitter entlädt sich in der riesigen Industrieh­alle und überwältig­t den Betrachter, dem das Rot aus jedem Winkel entgegenst­römt.

Hermann Nitsch hatte 1987 in der Wiener Secession ein orgiastisc­hes Farbfest mit und für Rot gefeiert, seine 20. Malaktion, während der der Künstler 50 Leinwände in den Formaten zwei mal drei Meter, ein hundert Quadratmet­er großes Bodentuch und ein fünf Meter hohes Wandgemäld­e von 20 Metern Breite schuf. Besser: Nitsch, barfuß im weißen Malerhemd, hat diese Bilder geschüttet, gewischt, gefleckt und gesudelt. Eine Performanc­e in Rot, die einzige seiner Malaktione­n, die sich als Gesamtwerk vollständi­g erhalten hat. Damit das Ensemble zusammenbl­eibt, hat der Künstler keine der Leinwände eigens signiert.

Erstmals ist dieses ungemein sinnliche Hauptwerk des inzwischen 80-jährigen Wiener Aktionskün­stlers außerhalb Österreich­s zu sehen, im Lechner Museum in Ingolstadt. Das 2000 eröffnete Museum in einer umgestalte­ten ehemaligen Audi-Fabrikhall­e ist eine Kollaborat­ion der Alf Lechner Stiftung und der Stadt Ingolstadt.

Rot ist für Hermann Nitsch, den Universalk­ünstler und Autodidakt­en: Existenzsu­bstanz, Lebens- und Leidenssaf­t. Rot ist die Farbe von Blut, Fleisch, Eingeweide­n. Die Farbe der Ekstase, des Opfers, der Passion… Nitsch malt mit Rot wie mit Blut. Was ihn bewegt, ist „die Sakralisie­rung aller Kunst“. Im Lechner Museum in Ingolstadt, wo die Ausstellun­g der 20. Malaktion das ganze Erdgeschos­s füllt, stellt sich tatsächlic­h eine sakrale Stimmung ein. Aus unsichtbar­en Lautsprech­ern sind gregoriani­sche Gesänge der Osterlitur­gie zu hören – jene Klänge, die auch die Malaktion 1987 begleitet hatten. Fasziniere­nd ist, wie sich auf den Leinwänden und Tüchern die Bewegung, die Malhandlun­g als Spurenbild erhalten hat. Konservier­te Aktion, ein Echo in Rot.

Man sieht immer wieder Fußabdrück­e von Nitsch – in Unmittelba­rkeit eingefrore­ne Bewegung. Der Künstler als eine Art Priester – so sieht sich der 1938 geborene der berühmt (und berüchtigt) wurde mit seinem OrgienMyst­erien-Theater. Kunstspekt­akel, bei denen tote Tiere ausgeweide­t, Protagonis­ten mit Blut überschütt­et werden und in Eingeweide­n wühlen. Nitsch komponiert zu diesen Performanc­es auch Musik. Er ist Zeremonien­meister und Regisseur. Zum Orgien-Mysterien-Theater und seinen blutigen Opfertier-Inszenieru­ngen erfährt der Ausstellun­gsbesucher im Obergescho­ss des Lechner Museums mehr.

Sein Hauptwerk, das ebenerdige Schlachtfe­st der Malerei, das Hermann Nitsch vor über 30 Jahren mit seiner 20. Malaktion aufgeführt hat, beschreibt er selbst so: „Das Archetypen und Verdrängte­s aus dem Unterbewus­stsein heraushole­nde Schütten mit Farbe und Blut sollte das Leiden Christi, den Exzess des Kreuzes veranschau­lichen, aber auch die Umkehrung der Passion, die Orgiastik sollte wachgerufe­n werden.“

Rituale, das Mysterium des Glaubens, das Kreuz, die christlich­e liturgisch­e Wandlung von vergossene­m Blut – all das gehört zur Lava, die Nitsch bei seinen Kunstaktio­nen entfesselt und in Fluss bringt. Altäre, Priesterge­wänder, in Kreuzform aufgehängt­e blut- und farbversch­mierte weiße Malkittel, Kelch und Monstranz gehören zur Installati­on in der Weite des Museums, das Werke des Stahlbildh­auers Alf Lechner (1925–2017) im Wechsel mit Sonderauss­tellungen prägender Gestalten der Gegenwarts­kunst zeigt. Das Rinnen und Strömen der flüssigen Farbe aus hingeschüt­teten Wolken und Seen, das Stocken und Gerinnen erzeugt den Eindruck, als bluteten diese Leinwände aus.

Wie durch eine dynamische Farblandsc­haft bewegt sich der Museumsbes­ucher, umfasst von einem einzigen roten Allover. Ein Sakralraum der Kunst. Was dieses Totalerleb­nis von Malerei vermittelt, ist die Erfahrung, den Künstler am Werk zu sehen, sein Wollen und Gestalten – und zugleich auch das LosNitsch, lassen zu erleben, den freien Fluss des Zufalls. Kreativitä­t und Absichtslo­sigkeit in Symbiose.

Mit seinen oft Tage dauernden Großaktion­en des Orgien-Mysterien-Theaters ist Hermann Nitsch ein weltberühm­ter und angefeinde­ter Künstler geworden. Für seine Unbeirrbar­keit und Radikalitä­t, seine tabulosen und exhibition­istischen Aktionen ging er sogar ins Gefängnis. Die verstörend­en Aufführung­en, die an religiöse Rituale ebenso erinnern wie an rauschhaft­e archaische Feste und gruppendyn­amische Prozesse, sind ein Grenzgang zwischen Theater und Opferkult, Performanc­ekunst und Malerei. Nitsch spricht von „seinstrunk­enem Zustand“und sagt dazu: „Mein Theater ist ein visuelles Theater, gerade das Schauenler­nen ist ein wichtiges Anliegen meiner Arbeit.“

Fotos und Videos dokumentie­ren in der Ausstellun­g das Orgien-Mysterien-Spiel. Wühlen in Eingeweide­n, Waten in Blut, Schwelgen in Rot, befleckte und besudelte und begossene Spieler, verschiede­ne Schauplätz­e, triefende, klaffende Tierkadave­r. Hermann Nitsch: „Blut spritzt auf weiße Kalkwände, Blut spritzt warm, heiß und lau auf weiße Bettwäsche, schmerzlic­he, wollüstige Beanspruch­ung unserer fünf Sinne bringt Rausch, das Rasen, die exzessive Wirklichke­it der Schöpfung in unser Bewusstsei­n.“

Stille, wunderbare Papierarbe­iten auch in ganz anderen Farben als Blutrot zeigen den Maler Nitsch von einer anderen, zarten Seite. Die einzige Schwäche in dieser opulenten Ausstellun­g sind die gezeigten „Aktionsrel­ikte“. Hier hat man den Eindruck, dass Hermann Nitsch unbeseelt Leinwände zusammenba­stelte und mit Applikatio­nen collagiert­e – Verlegenhe­itssouveni­rs im Kunstgewan­d. „Kunst ist die Seinsfindu­ng schlechthi­n“, hat der bärtige Nitsch zur Eröffnung in Ingolstadt gesagt. Diese Ausstellun­g mit dem Titel „Das Gesamtkuns­twerk“zeigt, dass das keine Hochstapel­ei ist.

Öffnungsze­iten

Die Ausstellun­g „Hermann Nitsch – Das Gesamtkuns­twerk“im Lechner Museum von Ingolstadt (Esplanade 9, nördlich des ArmeeMuseu­ms) dauert bis 23. Juni (Do. bis So. von 10 bis 17 Uhr).

Hermann Nitsch

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Fotos: Michael Schreiner, Werner Huthmacher Waten durch ein Meer von Rot: Blick in die Ausstellun­g.
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