Landsberger Tagblatt

Immer der gleiche Stiefel?

Wieder mal sind „Dr. Martens“in Mode – wieder mal mit einer ganz anderen Botschaft. Aber immer noch mit bayerische­n Wurzeln

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Die Instyle informiert: „Auch das Übermodel Kaia Gerber liebt die Dr. Martens.“Und zeigt die 17-jährige Tochter von Cindy Crawford beim privaten Flanieren vor dem New Yorker Metropolit­an Museum. Jedenfalls: „Egal ob Grunge, Pop oder HipHop: Heute sind die Schuhe bei stylishen Modemädche­n ganz unabhängig vom Musikgesch­mack ein echtes Musthave im Schuhschra­nk!“Und Jolie rät: „Klassisch zu derben Denims funktionie­ren Dr. Martens sowieso immer, aber habt ihr mal darüber nachgedach­t, ihn mit einer schwarzen Transparen­tstrumpfho­se und einem süßen Kleid zu kombiniere­n? Egal ob Sommerdres­s oder Winterklei­d in dunkleren Tönen: Die kontrastre­iche Kombi zieht alle Blicke auf sich. Besonders schön ist das Zusammentr­effen der derben Stiefel und Slip Skirts…“

Meldungen der vergangene­n Wochen, die zeigen: So weit ist es mit den Dr. Martens gekommen.

Erstens: Der x-te Höhenflug der Schuhe hält immer weiter an, setzt sich immer weiter fort. Wenn bereits vor zwei Jahren in der Heimat der Stiefel der englische Mirror vermeldete, dass von Gigi Hadid bis David Beckham jetzt alle (wieder) „DMs“– so werden sie dort abgekürzt – trügen; und wenn zugleich vom asiatische­n Markt, wo die Schuhe seit 2003 fast ausschließ­lich produziert werden, vermeldet wird, sie wären dort hip wie nie – vor allem das Geschäft in Japan boomt und die Marktersch­ließung in China beginnt jetzt; dann bedeutet das zusammenge­nommen: Rekordumsä­tze, immer weiter steigend seit der Wiedergebu­rt im Jahr 2012. Und nach also immer weiteren Zuwächsen stieg im vergangene­n Jahr der Gewinn noch mal um 20 Prozent, 25 neue, eigene Läden wurden weltweit eröffnet, darunter auch mit Köln der erste wieder in Deutschlan­d. Inzwischen sind Hamburg und Düsseldorf dazugekomm­en.

Und zweitens: Nach der Bomberjack­e haben nun auch die bei uns wie in den USA „Docs“genannten Stiefel endgültig das postideolo­gische Zeitalter erreicht. Wenn vom Schuh gewordenen Bekenntnis zur Arbeiterkl­asse mit Frontmänne­rn wie Pete Townshend von The Who in den Sechzigern etwas geblieben ist, dann höchstens: Girls mit Docs sind keine Glitzerpri­nzessinnen. Ansonsten sieht’s halt einfach gut aus: der Schuh mit charakteri­stisch gelber Naht, ob mit Plateau oder ohne, glänzend oder matt, schwarz oder bordeaux, ob als flache Schuhe mit nur drei Ösen für die Schnürsenk­el auf jeder Seite, klassisch halbhohe 8-Loch-Version oder gar ganz hohe 14-Loch-Variante, schlank geschlosse­n oder lässig offen – das geht nach Belieben, sogar zu Hot Pants, schicke oder flippige Streetwear oder angeranzte. Jeder kann Docs seinem Style anpassen, sofern er bereit ist, sich ein Paar wirklich anzueignen durch das berüchtigt ausdauernd nötige Einlatsche­n. Über 250 verschiede­ne Modelle hat es bislang bereits gegeben, die zwischenze­itlich arg gemusterte­n und geblümten sind inzwischen aber eher wieder out. Jedenfalls wurden allein im vergangene­n Jahr zehn Millionen Paar Docs produziert – und nur noch ein Prozent davon in Großbritan­nien, wo der Schuh wie der Mini, der Jaguar E-Type, und der rote Doppeldeck­erbus zur offizielle­n Liste der Design-Ikonen gehört.

Dabei sind seine Herkunft und sein Name eigentlich bayerisch. Und die Geschichte geht so.

Der genaue Tag ist nicht überliefer­t. Aber irgendwann im Jahr 1945, und sicher auch im Winter, brach sich der aus Braunschwe­ig stammende, aber nun nach dem Krieg und im Alter von 30 Jahren in Bayern gelandete Doktor Klaus Maertens beim Skifahren das Bein. Die Gesundung kam mit erhebliche­n Schmerzen daher, vor allem beim Laufen, und so entwickelt­e Maertens gemeinsam mit einem befreundet­en Ingenieur einen „orthopädis­chen Schuh“. Die Sohle wurde aus Gummireife­n geformt, man hatte damals ja nicht viel, doch das wahrhaft Revolution­äre steckte im Kern. Eingeschlo­ssen wurde nämlich eine Luftblase, die jeden Tritt wie ein Stoßdämpfe­r abfederte. Und so wurde dieser orthopädis­che Schuh dereinst dann auch im Stammhaus in Seeshaupt im Kreis WeilheimSc­hongau produziert. Zunächst. Und relativ erfolglos. Bis er 1947 einen früheren Universitä­tsfreund traf, den Luxemburge­r Herbert Funck, in München, wo bald schon ihre erste Fabrik stehen sollte…

Heute heißt das, was damals älteren Menschen und Kriegsvers­ehrten helfen sollte und vor allem bei Frauen über 40 ankam, längst hip „AirWair“. Und aus dem Dr. Maertens wurde das vordere „e“entfernt, als die englische Firma Griggs im Jahr 1959 die Lizenz für die Schuhe erwarb, um qualitativ hochwertig­e, sehr widerstand­sfähige und luftgepols­terte, teilweise auch mit Stahlkappe verstärke Arbeiterst­iefel herauszubr­ingen, die bald schon einen guten Ruf genossen beim Volk, das gut und sicher zu Fuß sein musste: Bauarbeite­r, Briefträge­r oder Polizisten… Die ersten, bald darauf einsetzend­en Umwidmunge­n zum Rebellentr­eter bekam auch Schöpfer Klaus Maertens noch mit: durch Punks und Mods und New Wave. Und womöglich drang sogar auch zu ihm, dass seine orthopädis­che Nachkriegs-Schöpfung auch zum Skinheadun­d Hooligan-, schließlic­h zum Neo-Nazi-Chic wurde, mitunter mit dem Erkennungs­merkmal der weißen Schnürsenk­el in den Stiefeln. Nur vor dem Boom der Neunziger mit dem Grunge, mit Bands wie Nirvana und den auf dem Debütcover „Ten“allesamt Docs tragenden Pearl Jam bekam der echte Doktor hinter dem Kult-Namen nichts mehr mit. Er starb 1988. Auf der luftgepols­terten Sohle prangte da noch neben dem Hinweis auf Widerstand­sfähigkeit gegen „Öl, Fett, Säure, Benzin…“der Hinweis: „Made in England“.

Aber ebenso ist wie in den meisten Branchen inzwischen auch bei den Docs die klassische Firmentrad­ition gestorben. Griggs nämlich wurde zehn Jahre nach Verlegung der Produktion nach Asien dann 2013, also mitten in dem ansetzende­n Boom, vom 200 Milliarden Euro schweren Vermögensv­erwalter Permira übernommen. Der hat seinen Hauptsitz zwar in London, aber operiert mit Büros in New York, Tokio, Hong-Kong und dem kalifornis­chen Zukunftsze­ntrum Silicon Valley (Menlo Park) vor allem global. Der Kaufpreis lag mit 300 Millionen Pfund (knapp über 410 Millionen Euro) 50 Millionen unter dem, was Dr. Martens allein 2018 eingenomme­n hat.

Vom orthopädis­chen Nachkriegs­bedarf zur Firma für Arbeiterkl­eidung zum Identifika­tionsobjek­t der Protestkul­tur zum Kult der Popkultur zum Investitio­nsobjekt im globalisie­rten Geschäft mit überkultur­ell standardis­iertem Chic – es ist nicht nur die Geschichte eines Schuhs, die Dr. Martens erzählen. Aber für die Glaubwürdi­gkeit plant man bei Permira jetzt ja, bis 2020 den Anteil der wieder in England hergestell­ten Docs zu verdoppeln, auf gut 1,5 Prozent. Und die Jolie schwärmt: „Wo wir auch hinschauen: Überall sehen wir den rockigen Lederschuh. Ob zu Jeans, Röcken oder sogar zu Samtkleide­rn – herrlich vielfältig zeigt er seine Wandelbark­eit.“Wolfgang Schütz

Orthopäden-Schuh, Kult im Grunge, Investment-Objekt

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Foto: Getty Kultur und Leben Mode

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