Landsberger Tagblatt

Selbstbild mit Mutter

„Eine Frau“: Annie Ernaux überzeugt mit einem weiteren Kapitel aus ihrem Leben

- VON MICHAEL SCHREINER

Die 1940 geborene Französin Annie Ernaux hat sich mit ihren autobiogra­fischen Werken eine Ausnahmest­ellung in der zeitgenöss­ischen Literatur erschriebe­n. Ernaux ist eine Erzählerin und Erforscher­in des eigenen Lebens – sie selbst nannte sich einmal „Ethnologin“. Wie sie den Aufstieg aus ihrer kleinbürge­rlichen Herkunft an die Universitä­t schaffte (und auch als Verrat an ihren Leuten empfand), was das Denken und Fühlen ihrer Eltern bestimmte – davon erzählt Anni Ernaux in ihren Büchern „Die Jahre“, „Erinnerung eines Mädchens“und „Der Platz“, das dem Leben ihres Vaters nachgeht. Sie erkundet das Private immer mit Blick auf das gesellscha­ftliche Umfeld; Persönlich­es und Öffentlich­es sind wie kommunizie­rende Röhren. Und sie reflektier­t stets das Schreiben selbst, ihre Motive und Zweifel.

Auch deshalb heißt das nun erstmals auf Deutsch erschienen­e Buch über ihre Mutter nicht „Meine Mutter“oder „Die Frau“, sondern: „Eine Frau“. Denn Annie Ernaux sucht im Schreiben über ihr Leben, über ihre Eltern immer auch den Abstand, der sie über das Private hinausblic­ken lässt. Wenn sie über das Leben ihrer aus einfachste­n Verhältnis­sen stammenden Mutter schreibt, geht es Ernaux auch „um den Versuch, Frausein zu objektivie­ren“.

Wir lesen: „Beim Schreiben sehe ich mal die ,gute’, mal die ,schlechte’ Mutter vor mir. Um diesem Hin und Her zu entkommen, das tief in meine Kindheit zurückreic­ht, versuche ich die Dinge so zu beschreibe­n, als würde es sich um eine andere Mutter handeln und um eine Tochter, die nicht ich ist.“

1986, wenige Tage nach dem Tod ihrer Mutter, die am Ende dement in einem Altenheim lebte, begann die Autorin mit ihren Aufzeichnu­ngen. Es ist nicht nur der Versuch einer Bewältigun­g der Trauer, einer Vergegenwä­rtigung der abwesenden Mutter, sondern auch wahrhaftig­e Selbstbefr­agung. „Was ich zu schreiben hoffe, um ihr gerecht zu werden, liegt vermutlich an der Nahtstelle von Familie und Gesellscha­ft, Mythos und Geschichte“, schreibt die Tochter.

In Erinnerung­en und präzisen Sätzen skizziert Ernaux ein von Arbeit und Existenzän­gsten, aber auch von stolzer Selbstbest­immtheit geprägtes Leben. „Sie war weder glücklich noch unglücklic­h darüber, mit zwölfeinha­lb von der Schule abzugehen, das war so üblich. In der Margarinef­abrik, in der sie zu arbeiten begann, litt sie unter der Kälte und Feuchtigke­it, bekam Frostbeule­n an den nassen Händen, die den ganzen Winter nicht verheilten.“Annies Eltern heirateten 1928, sie führten lange einen Laden mit Café in einer Kleinstadt in der Normandie – und investiert­en in Annie, die es einmal besser haben sollte. Nach dem Tod ihres Ehemannes schuftete die Mutter allein weiter. „Sie war eine Mutter, die alle kannten, quasi eine öffentlich­e Mutter“, schreibt Ernaux.

Als die Mutter das Geschäft in der Normandie aufgibt, kommen sich die beiden wieder näher. Ernaux, verheirate­t, zwei Kinder, nimmt ihre Mutter zu sich – erst nach Annecy, später in einen Vorort von Paris. Das geht Jahre gut, bis die Mutter beschließt, wieder in die alte Heimat zurückzuzi­ehen. Dort leidet sie unter der „unvermeidl­ichen Monotonie eines Lebens ohne Arbeit“. Wie Annie Ernaux das langsame

Dementwerd­en ihrer Mutter beschreibt, zeigt die literarisc­he Meistersch­aft dieser Autorin. Knapp, unsentimen­tal und schonungsl­os klar, aber zugleich zärtlich und sensibel. Kein Wort zu viel. „In ihren immer kürzer und seltener werdenden Briefen fehlten Wörter. In ihrer Wohnung begann es zu riechen.“Und über das Pflegeheim, in das die Mutter schließlic­h einziehen muss, heißt es in „Eine Frau“: „Sie betrat nun endgültig diesen Raum ohne Jahreszeit­en, mit gleichblei­bender Temperatur und gleichblei­bendem Geruch, diesen Raum ohne Zeit, in dem es nur die reibungslo­se Wiederholu­ng der Lebensfunk­tionen gab, essen, schlafen etc.“

Die literarisc­he Größe dieses klug komponiert­en Buches macht aus, dass wir auf nicht einmal 90 Seiten ein sehr persönlich­es, wahres, lebendiges Lebensbild einer Frau vor Augen haben – und zugleich teilhaben an den komplexen Gefühlen der Tochter, die am Ende ihrer Aufzeichnu­ngen schreibt: „Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.“Zugleich aber hat sich Annie Ernaux mit diesem berührende­n, aufrichtig­en Buch eine Brücke gebaut. „Durch die Gemeinscha­ft der Lesenden lebt meine Mutter“, sagt die Autorin heute. „Durch das Schreiben habe ich sie nicht begraben.“Das Buch, in dem sie ihrer Mutter nachspürt, sei eine Suche gewesen. „Nur so war es möglich, ihr nahezukomm­en, sie wiederzube­leben.“

» Annie Ernaux: Eine Frau.

Aus dem Französisc­hen von Sonja Finck, Suhrkamp, 88 Seiten,

18 Euro

 ?? Foto: Olivier Roller, Suhrkamp ?? Das eigene Leben ist Stoff für ihre Bücher: die französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux, Jahrgang 1940.
Foto: Olivier Roller, Suhrkamp Das eigene Leben ist Stoff für ihre Bücher: die französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux, Jahrgang 1940.
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