Landsberger Tagblatt

Kretschman­ns Enkel

Der Ministerpr­äsident bringt Cem Özdemir als Kanzlerkan­didaten ins Spiel und stört damit die Grünen-Harmonie. Was steckt dahinter?

- VON MICHAEL POHL

Berlin Seit Monaten bemühen sich die Grünen nach allen Kräften, ja keine Kanzlerkan­didaten-Debatte aufkommen zu lassen: Die Umfragehoc­h-Partei hat von der Konkurrenz gelernt, je früher ein Name feststeht, desto eher wird er verheizt. Selbst auf ihrem perfekt inszeniert­en Bundespart­eitag hielten die Grünen ihre selbst verordnete Harmonie-Strategie durch. Doch nun knallt ausgerechn­et BadenWürtt­embergs Oberrealo-Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n dazwischen und bringt Ex-Parteichef Cem Özdemir als möglichen Kanzlerkan­didaten ins Spiel.

„Was soll an Robert Habeck, Annalena Baerbock und Cem Özdemir schlechter sein als an den Kandidaten, die sonst noch gehandelt werden?“, sagte Kretschman­n in einem Interview. Er bekräftigt­e damit nicht nur die Forderung, dass die Grünen erstmals einen Kanzlerkan­didaten aufstellen sollen. Er schob auch den in der zweite Reihe verschwund­enen Özdemir wieder in die erste Riege – nicht ohne auf die Biografie des Gehuldigte­n vom Gastarbeit­erkind zum langjährig­en Parteichef „als große Ermutigung für viele Menschen“hinzuweise­n.

Sofort folgte aus der harmonieve­rliebten Grünenspit­ze ein ungewöhnli­ch harter Rüffel Richtung

Stuttgart: „Es erstaunt mich, dass Winfried Kretschman­n jetzt schon wieder eine Personalde­batte aufmacht“, meldete sich Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner zu Wort, anstatt die Diskussion wie üblich ins Leere laufen zu lassen. Stattdesse­n betonte Kellner, dass die Grünen mit Habeck und Baerbock mit Rekordwert­en wiedergewä­hlte, „bärenstark­e“Vorsitzend­e hätten.

Ein bisschen erinnert das Ganze an die besseren Zeiten der Sozialdemo­kratie, als sich eine ganze Schar von Nachwuchsp­olitikern als Enkel Willy Brandts bezeichnen durfte. Da meist nur die – später tatsächlic­hen Parteivors­itzenden – Björn Engholm, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder dabei genannt wurden, soll Willy Brandt kurz nach seinem Abschied als SPD-Vorsitzend­er Ende der Achtziger gesagt haben: „Vergesst mir den Mainzer nicht.“Und Jahre später wurde der angesproch­ene Rudolf Scharping – wenn auch glückloser – Parteivors­itzender und Kanzlerkan­didat.

Also vergesst mir den Cem nicht? Tatsächlic­h ist Özdemir ein enger Vertrauter Kretschman­ns. Beide verbindet eine – in der Parteipoli­tik eher seltene – echte Freundscha­ft. Vor allem haben sie eine gemeinsame politische Grundüberz­eugung: die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie. Sie gelten damit bei den Grünen als wirtschaft­sfreundlic­he Konservati­ve, deren gute Kontakte etwa zu Daimler-Benz eher Argwohn als Anerkennun­g auslösen.

Özdemir gilt schon lange als möglicher Kretschman­n-Nachfolger. Er hat aber vor allem auf Bundeseben­e große Ambitionen – auch wenn sein Traum vom Außenminis­teramt in einer Jamaika-Koalition ebenso geplatzt ist, wie jüngst der Griff nach dem Fraktionsv­orsitz. Nach Lage der Dinge wird 2021 sowohl im Bund als auch in Baden-Württember­g gewählt. Vielleicht wärmt ihm ein siegreiche­r Kretschman­n den Ministerpr­äsidentens­essel für eine Übergangsz­eit als Option vor.

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Foto: S. Gollnow, dpa Grüne Freunde: Cem Özdemir und Winfried Kretschman­n.

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