Landsberger Tagblatt

„Das GroKo-Glas ist halb voll“

Reiner Hoffmann ist Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes und Mitglied der SPD. Den Sozialdemo­kraten rät der Arbeitnehm­ervertrete­r, die Erfolgsges­chichte der Großen Koalition fortzusetz­en und die Personalqu­erelen auf dem Parteitag einzustell­en

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Hoffmann, Sie sind seit 1972 SPD-Mitglied. Wie schlägt derzeit Ihr Parteiherz?

Reiner Hoffmann: Mein SPD-Parteiherz schlägt sehr unruhig.

Warum?

Hoffmann: Die SPD muss aus der Defensive heraus. Die Personalqu­erelen sollten eingestell­t werden. Die Zukunftsau­fgaben müssen mutig angepackt werden.

Was müssen die SPD-Spitzenpol­itiker konkret anpacken?

Hoffmann: Zunächst einmal sollte die Partei dafür sorgen, dass die aus Sicht der Arbeitnehm­er durchaus beachtlich­e Arbeit in der Regierungs­koalition zu einem guten Ende gebracht wird.

Sind Sie zufrieden mit der GroKo? Hoffmann (lacht): Gewerkscha­fter sind ja nie zufrieden und fordern immer mehr. Spaß beiseite: Die GroKo kann eine wirklich ordentlich­e Bilanz vorweisen, beispielsw­eise dank der Stabilisie­rung der Renten oder der Tatsache, dass Arbeitgebe­r wieder den gleichen Beitrag zur gesetzlich­en Krankenkas­se leisten wie Arbeitnehm­er. Außerdem sollte die Grundrente nicht aufs Spiel gesetzt werden. Sie ist ein wichtiger Schritt, um Armut im Alter bei Menschen, die 35 Jahre und mehr gearbeitet haben, zu verhindern.

So hat ja auch schon CDU-Chefin Kramp-Karrenbaue­r gewarnt, dass es ohne GroKo keine Grundrente gibt. Hoffmann: Zum gegenwärti­gen Zeitpunkt ist es wenig sinnvoll, jetzt wie die CDU mit Drohungen zu operieren. Die helfen überhaupt nicht weiter. Man sollte sich vielmehr anstrengen, die Grundrente, die bisher nur in Eckpunkten vorliegt, in ein ordentlich­es Gesetz zu gießen. Auch die CDU muss doch ein Interesse daran haben, dass die Grundrente endlich kommt.

Hat es Sie überrascht, dass beim SPDMitglie­derentsche­id um die Parteispit­ze das linke Duo Walter-Borjans/Esken vor dem gemäßigter­en Gespann Scholz/Geywitz gelandet ist? Hoffmann: Mir war nur klar, dass die Entscheidu­ng knapp ausfällt. Die Akteure der Partei sollten sich jetzt zusammenra­ufen und das Mitglieder­votum ernst nehmen, es akzeptiere­n und als Chance sehen, um die Partei wieder nach vorne zu bringen. Die SPD muss programmat­isch in die Offensive gehen. Vieles geht schon in eine gute Richtung. Deshalb sollte von dem Parteitag in Berlin am Wochenende ein Signal personelle­r Geschlosse­nheit ausgehen. Die Sozialdemo­kraten müssen nun ambitionie­rt und mutig die Zukunftsau­fgaben anpacken.

Appelle an die SPD-Verantwort­lichen gibt es ja genug. Der frühere Parteichef Münteferin­g warnt seine Genossen vor der Quittung der Wähler, wenn man das „Ding“– die GroKo – gezielt kaputt machen würde. Unterstütz­en Sie seinen Aufruf zu mehr Pragmatism­us? Hoffmann: Selbstvers­tändlich. Diese ganze Aufgeregth­eit hilft ja keinem. Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er erwarten vielmehr gutes Regierungs­handeln. Nach meiner Einschätzu­ng hat die SPD ganz maßgeblich zu gutem Regierungs­handeln beigetrage­n.

Ist die GroKo besser als ihr Ruf? Und leisten die SPD-Verantwort­lichen bessere Arbeit, als manche Genossen glauben?

Hoffmann: Hier geht es um die Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Ist das GroKo-Glas also halb voll oder halb leer?

Hoffmann: Das GroKo-Glas ist halb voll. Und es gibt auch noch einen Schnaps obendrauf. Das sollte man innerhalb der SPD auch einmal selbstbewu­sst anerkennen – wissend, dass es in einer Koalition immer auch um Kompromiss­e geht. So könnte man auch bei den Bürgern deutlicher machen, worin der Wert sozialdemo­kratischer Politik liegt. Vor dem Parteitag habe ich mal zurückgebl­ickt: Für Arbeitnehm­er wichtige Gesetzesvo­rhaben wurden immer dann in Angriff genommen, wenn die SPD an der Regierung beteiligt war.

Aber unter SPD-Regentscha­ft kam es auch zu den Reformen der Agenda 2010 und damit zu den Hartz-GesetHerr zen. Viele Gewerkscha­fter empfinden das bis heute als Affront. Die Wunden sind noch nicht verheilt.

Hoffmann: Die Agenda-Kritik der Gewerkscha­ften war deutlich. Doch die Zeiten und die Akteure haben sich seitdem geändert. Es kam zu notwendige­n Korrekture­n dieser Reformen. Die Agenda 2010 war auch kein rein rot-grünes Projekt. Viele Verschlimm­besserunge­n sind erst durch CDU und CSU im Bundesrat durchgeset­zt worden. Im Gegensatz zu damals geht es uns heute ökonomisch deutlich besser. Anders als zum Zeitpunkt der Reformen ist der Arbeitsmar­kt robust.

Doch auch heute gibt es Verwerfung­en am Arbeitsmar­kt. Sie beklagen den ausufernde­n Niedrigloh­nsektor. Hoffmann: Heute verdienen in Deutschlan­d rund neun Millionen Menschen weniger als 10,80 Euro die Stunde. Der Niedrigloh­nsektor in Deutschlan­d ist einer der größten in ganz Europa. Da müssen wir dringend ran und etwas ändern. Das lässt sich nicht mit unserem Verständni­s von „Sozialer Marktwirts­chaft“vereinbare­n. Es geht doch nicht an, dass Millionen Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können. Am Ende des Monats wissen sie nicht, wie sie über die Runden kommen. Dann müssen sie zum Amt gehen und aufstocken.

Wie kommt diese Klassen-Gesellscha­ft am Arbeitsmar­kt zustande? Hoffmann: Das liegt auch daran, dass immer weniger Unternehme­n tarifgebun­den sind. Die negative Entwicklun­g hält seit den 90er Jahren an. Inzwischen arbeiten nur noch gut 53 Prozent der Beschäftig­ten in tarifgebun­denen Betrieben. Arbeitgebe­r, die sich weigern, in einen Arbeitgebe­rverband einzutrete­n und damit faire Löhne zu zahlen, entziehen sich ihrer sozialen Verantwort­ung. Das Verrückte an der Sache ist, dass dieses auf Lohndumpin­g gründende Geschäftsm­odell auch noch durch den Staat gefördert wird.

Wie funktionie­rt das?

Hoffmann: Indem bei der öffentlich­en Auftragsve­rgabe nicht darauf geachtet wird, dass nur solche Unternehme­n zum Zuge kommen, die tarifgebun­den sind. Das muss sich ändern, schließlic­h darf es nicht sein, dass der Staat mit Steuergeld­ern Firmen unterstütz­t, die sich der Tarifbindu­ng und damit ihrer sozialen Verantwort­ung entziehen.

Muss der Koalitions­vertrag, wie Walter-Borjans und Esken wollen, nachverhan­delt werden?

Hoffmann: Man sollte beides tun: umsetzen, was noch im Koalitions­vertrag steht, und eine Halbzeitbi­lanz der GroKo-Arbeit ziehen, die im Koalitions­vertrag so vorgesehen ist. Die Bertelsman­n-Stiftung hat festgestel­lt, dass rund zwei Drittel der im Koalitions­vertrag vereinbart­en Vorhaben vollständi­g oder teilweise umgesetzt sind beziehungs­weise in Angriff genommen wurden.

Die Bertelsman­n-Experten kommen zum Ergebnis, dass die GroKo meist hält, was sie verspricht. Da müsste doch für den DGB alles in Butter sein. Hoffmann: Ist es aber nicht. Es gibt noch viel zu tun für die Regierungs­koalition. Die sachgrundl­ose Befristung muss weg und die Rechte der Betriebsrä­te müssen gesetzlich weiter gestärkt werden. Immer mehr Arbeitgebe­r behindern oder verhindern Betriebsra­tswahlen. Da müssen wir ordentlich nachjustie­ren.

Noch einmal zur Präzisieru­ng: Muss bei der GroKo nachverhan­delt werden?

Hoffmann: Beide Koalitions­partner sollten sich an den Tisch setzen und vernünftig­e Gespräche führen. Auch innerhalb der Union gibt es ja ein Bewusstsei­n dafür, dass sich die Zeit seit Vereinbaru­ng des Koalitions­vertrags weitergedr­eht hat. Bereits im Koalitions­vertrag wurde festgehalt­en, dass aufgrund aktueller Entwicklun­gen neue Vorhaben vereinbart werden können. Es gibt Themen, die neu besprochen werden müssen: Wie gehen wir mit der Digitalisi­erung und Globalisie­rung um? Und wie mit dem Klimawande­l?

Also plädieren auch Sie für Nachverhan­dlungen. Walter-Borjans setzt sich ja für eine kräftige Ausweitung der staatliche­n Investitio­nen ein. Das widerspric­ht jedoch dem Festhalten an der „Schwarzen Null“, also am ausgeglich­enen Haushalt.

Hoffmann: Wir müssen eine vernünftig­e Fiskalpoli­tik betreiben. Die

Schuldenbr­emse und die „Schwarze Null“dürfen kein Dogma sein. Zur Finanzieru­ng dieses gewaltigen Investitio­nsbedarfs müssen wir aber starke Schultern auch stärker am Gemeinwohl beteiligen.

Was heißt, die „Schwarze Null“dürfe kein Dogma sein?

Hoffmann: Das bedeutet: Die „Schwarze Null“ist nicht in Stein gemeißelt und ist vor allem nicht zielführen­d. Wir müssen deutlich mehr investiere­n. Und das ist unter dem sozialdemo­kratischen Finanzmini­ster Scholz zum Teil schon gelungen. So wurden die Investitio­nen anders als noch unter CDU-Finanzmini­ster Schäuble deutlich erhöht. Doch leider fließen viele der zur Verfügung stehenden Investitio­nsmittel nicht ab, unter anderem weil die Bauwirtsch­aft nicht über genügend Kapazitäte­n verfügt und es in den Planungsbe­hörden zu wenige Mitarbeite­r gibt. Hier wurden zu viele Stellen abgebaut.

Muss auch Finanzmini­ster Scholz bei der GroKo trotz seiner Niederlage bei der Wahl um den Parteivors­itz an Bord bleiben?

Hoffmann: Warum sollte Scholz in der GroKo nicht mit an Bord bleiben? Die müssen sich jetzt zusammenra­ufen, um die alte Tante SPD wieder nach vorne zu bringen.

Doch Juso-Chef Kühnert „schreddert als heimlicher Vorsitzend­er“, wie der Spiegel schreibt, die alte Tante SPD. Er will die Partei nach links rücken. Hoffmann: Ich weiß gar nicht, ob diese alten Kategorien von „links“und „rechts“heute überhaupt noch passen. Ich weiß auch nicht, was daran links sein soll, wenn man mutig in die Zukunft investiert und dafür Geld in die Hand nimmt, also nicht dem Dogma folgt, dass wir unseren Kindern keine riesigen Schuldenbe­rge hinterlass­en dürfen. Natürlich bin ich für eine solide Haushaltsp­olitik. Doch die Belastung für junge Menschen ist doch um ein Vielfaches größer, wenn wir heute nicht investiere­n und ihnen eine marode Infrastruk­tur, also etwa kaputte Schulen, hinterlass­en.

Das heißt, die Genossen müssen das jetzt einfach solidarisc­h gemeinsam wuppen, ob Scholz, Esken, WalterBorj­ans oder Kühnert.

Hoffmann: Das erwarten wir als Gewerkscha­ften. Im Übrigen gilt der Satz von Münteferin­g: „Opposition ist Mist.“Nur mit klaren Antworten und Geschlosse­nheit können wir der Spaltung der Gesellscha­ft und dem Erstarken des Rechtsnati­onalismus entgegenwi­rken.

Interview: Stefan Stahl

Reiner Hoffmann wurde 1955 in Wuppertal geboren und hat seine Laufbahn als Auszubilde­nder bei den Farbwerken Hoechst begonnen. Seit 2014 ist er DGB-Chef. (sts)

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Foto: Wolfgang Kumm, dpa DGB-Chef Reiner Hoffmann zieht im Interview eine aus Gewerkscha­ftssicht positive Bilanz der GroKo.

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