Landsberger Tagblatt

Herunterge­dimmtes Drama des Lebens

Stewart O’Nan erzählt erneut meisterhaf­t vom Rentnerdas­ein. Nach „Emily, allein“widmet er sich nun einem Jahr im Leben ihres verstorben­en Mannes Henry

- VON MICHAEL SCHREINER

Vor sieben Jahren haben wir an dieser Stelle den Roman „Emily, allein“vorgestell­t. Die Besprechun­g begann so: Kann das gut gehen? Ein Roman über das ruhige und gesittete Leben einer Witwe jenseits der 75, die allein mit ihrem altersschw­achen Hund in Pittsburgh in einem Haus lebt, ab und zu etwas mit ihrer Schwägerin unternimmt und sich noch einmal ein neues Auto leistet? (...) Ja, das geht gut. Denn der, der von diesem durchschni­ttlichen Mittelklas­se-Seniorenle­ben erzählt, ist Stewart O’Nan.

Jetzt legt der US-Schriftste­ller mit „Henry persönlich“nach. Ein Roman über ein Jahr im Leben Emilys, als Henry, ihr Mann, noch an ihrer Seite lebte. Wieder besticht der Roman – erzählt aus der Sicht des 75-jährigen Henry Maxwell – durch ein großes Gespür für das herunterge­dimmte, gewöhnlich­e Drama des alltäglich­en Lebens, das im Rentenalte­r zwischen Unbeschwer­theit, Ratlosigke­it, Ritualen und verdrängte­r Todesnähe changiert. Geht das wieder gut? Ja, das geht wieder gut.

O’Nan zieht aus den alltäglich­sten Begebenhei­ten wie Einkaufen, Hausarbeit, Restaurant­besuchen und Wintersonn­tagen daheim den Stoff für einen bewegenden Roman.

er das Rentnerleb­en mit seiner Wiederholu­ngsbefliss­enheit zu Literatur macht, wie er fein dosiert Betrachtun­gen über die Vergangenh­eit, die Familie, die Vergänglic­hkeit und die Lebenslust einflicht – das ist von einer stillen Meistersch­aft, die niemals auftrumpft.

Der Roman erzählt also ein Jahr im Leben von Henry Maxwell, der in Pittsburgh eine gut eingespiel­te Ehe mit Emily führt, mit der er seit 49 Jahren verheirate­t ist. Im Haus lebt nur noch Rufus, ihr Hund. Das Paar hat Kinder, Kenny (verheirate­t mit Lisa, zwei Kinder) und Margret (verheirate­t mit Jeff, zwei Kinder), wobei Margret das Sorgenkind ist: Pechvogel, Alkoholike­rin, Süchtige, ihre Ehe steht vor dem Scheitern, ständig braucht sie Geld... Zur Familie gehört auch Arlene, Henrys ältere Schwester, alleinsteh­end.

Henry ist Ingenieur, ein passionier­ter Heimwerker, einer, der seine Tage ruhig verbringt, mit Basteln, Spaziergän­gen mit dem Hund, Einkaufsfa­hrten, ab und zu einer Runde Golf mit drei alten Kollegen. Er macht die Steuer im Arbeitszim­mer, sorgt sich um den Rasen im Garten, bekämpft Mäuse und hält alles in Schuss. Emily regiert im Haus und in der Küche. Sie ist bestimmend, zupackend – und Henry gibt oft nach, geht aus dem Weg, ist einer, der sich ihrer Resoluthei­t und ihren Regeln mit melancholi­scher, fast weiser Nachgiebig­keit anpasst.

Henry wird ab und an heimgesuch­t von Kriegserle­bnissen, er war als Soldat in Frankreich und Deutschlan­d, er hat Schlimmes erlebt und zu verdrängen versucht. Ansonsten stellt er sich dem Leben, das für ihn vor allem Routine und nur kleine Triumphe bereithält. Er führt Erledigung­slisten, er hat Angst, schwach und vergesslic­h zu werden, er genießt es manchmal, wenn die Familie zusammen ist (im Sommerhaus oder bei Festen) – auch wenn er und Emily Bammel davor haben, weil es knirscht... Henry lebt so dahin, ordentlich, gewissenha­ft, abgesicher­t.

O’Nan blickt mit Sympathie und unerbittli­cher Beharrlich­keit auf seine Figuren. Er braucht weder spektakulä­re Ereignisse noch Abgründe – ihm genügt der ruhige Fluss des beschaulic­hen Daseins, um in die Tiefe des Menschsein­s zu loten. O’Nan beschreibt die stillen Abenteuer des Rentnerleb­ens geduldig, altersmild­e und undramatis­ch. Feiner Humor gehört zum Ton des Romanciers, der aber nie denunziert und vor allem vollkommen kitschfrei bleibt. Er lässt immer wieder feine Risse entstehen, die den Blick freigeben auf GrundfraWi­e gen der Existenz. Tod, Krankheit, Leid, Erinnerung­en, Zaghaftigk­eit, die absehbare Begrenzthe­it des Lebens, das noch bleibt, Wünsche, die man nur noch denkt, sich nicht mehr erfüllt. Das ist souverän, ohne Häme, klug und wahr geschriebe­n.

Wie O’Nan das Große mit dem Banalen verbindet? Ein Moment aus dem Roman, in dem Henry sinnierend spazieren geht: „Das hier waren dieselben Häuser, dieselben Straßen, vielleicht sogar dieselben Kirchenglo­cken, die sein Onkel Henry, seine Eltern und Großmutter Chase mit ihrem Missionars­kreuz vor einem Jahrhunder­t gehört hatten, alle tot, wie auch er es bald sein würde, ein Grabstein die einzige Spur, die er hinterließ. Als Kind hatte er sich gefragt, warum sich jemand wünschen sollte, ewig zu leben. Doch inzwischen fand er die Verheißung notgedrung­en verlockend, auch wenn er immer noch nicht verstand, wie es funktionie­ren sollte. Rufus musste kacken und hockte sich vorsichtig ins nasse Gras.“

» Stewart O’Nan: Henry persönlich. Übersetzt von Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag, 480 S., 24 ¤

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Foto: Ralph Crane/LIFE Picture Collection, Getty Images Stewart O’Nan beschreibt in seinem neuen Roman das Leben eines Rentnerpaa­res in den USA. Langweilig? Das täuscht!
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