Landsberger Tagblatt

Fehler im System

In den 80er Jahren rückten die Industrien­ationen vom Sozialstaa­t ab. Seitdem wuchsen trotz Wirtschaft­skrisen die Vermögen – und die prekäre Arbeit. Das bringt die Demokratie in Gefahr. Was die Ökonomie damit zu tun hat

- VON JONAS VOSS

Wer heute Arbeitnehm­er ist, sitzt meist zwischen acht und 18 Uhr im Büro. Er checkt E-Mails, absolviert Konferenze­n und gießt seine Produktivi­tät über Excel-Tabellen oder Bildbearbe­itungsprog­ramme. So verschaffe­n Vollbeschä­ftigung und Fachkräfte­mangel vielen Angestellt­en hierzuland­e eine bequeme Position – sind sie für viele Firmen doch beinahe unersetzli­ch. Dem deutschen Arbeitnehm­er geht es gut, möchte man meinen.

Doch die Arbeitswel­t wandelt sich und mit ihr der Arbeitende. So entstehen immer mehr Jobs in der „Gig Economy“– Arbeit, die über digitale Plattforme­n vermittelt wird und dem Arbeitende­n eine Selbststän­digkeit suggeriert, die nicht vorhanden ist. Der Begriff gleiche „eher dem zynischen Manöver, eine prekäre Beschäftig­ungsform mit der Romantik des Entertainm­ent-Gewerbes aufzuhübsc­hen“, schreibt der Soziologe Colin Crouch in seinem neuesten Werk. Anbieter und Suchende auf diesen Plattforme­n setzen auf das neueste Konzept digitaler Durchstart­er: Disruption – neudeutsch für erzwungene­n Wandel und Lieblingsf­ettwort der Startup-Industrie.

Dabei ist das eigentlich nichts Neues: bereits das 18. Jahrhunder­t erlebte mit dem Beginn der Industrial­isierung intensivst­e Disruption. Alte Gesellscha­ftskonzept­e endeten, neue entstanden: etwa das sogenannte Proletaria­t. Mittellose Arbeiter, sich selbst ausbeutend, um zu überleben. Erst der Wohlfahrts­staat und die Vollbeschä­ftigung beendeten deren Misere. Heute wandelt sich die Gesellscha­ft erneut. Wissenscha­ftler sprechen von zunehmende­r prekärer Arbeit – eine Arbeit mit nur geringer Entlohnung oder Beschäftig­ungssicher­heit.

Zu diesen Missstände­n trägt die Plattform-Ökonomie bei. Milliarden­schwere Firmen wie Uber, Airbnb, Ebay oder Amazon setzen vermehrt auf diese Beschäftig­ungsform. Crouch kritisiert, die Gig Economy erschaffe „Arbeitnehm­er, die der Autorität des Unternehme­ns vollkommen unterworfe­n sind“, ohne dass diese Verantwort­ung übernehmen müsse. Das, womit Plattformö­konomien werben, also Freiheit und Unabhängig­keit: Nichts als Propaganda? Wenn es nach Crouch geht, sogar mehr als das. Es sei, so schreibt der Wissenscha­ftler, nur eine Form der versuchten Einflussna­hme auf das Wohl der Arbeitnehm­er durch neoliberal­e Politiker und Theoretike­r. Die Unternehme­nsleitung müsse auf einem freien Markt im Namen der Aktionäre für Effizienz sorgen. Damit soll die Gig Economy ein Wirtschaft­ssystem stützen, welches seit einigen Jahren vermehrt infrage gestellt wird. Mehr und mehr Menschen beginnen, an den Grundfeste­n des Systems zu zweifeln.

Die moderne Ökonomie in westlichen Staaten verdankt ihr theoretisc­hes Fundament neoliberal­en, angelsächs­ischen Ökonomen. Kurz gefasst: möglichst wenig Staat, möglichst viel Markt. Und negiert damit, was die Menschen wirklich bräuchten – die Befriedigu­ng ihrer Bedürfniss­e, etwa Lebenszufr­iedenheit, Glück oder schlicht: ein angemessen­es Obdach. So führt das Christian Felber in „This is not Economy“aus. Der Initiator der Bewegung Gemeinwohl-Ökonomie will genau das – eine Wirtschaft­sform, die den Menschen anstatt den Unternehme­n dient. So sei „ein solider Sozialstaa­t nicht notorische­r Vorbote des Sozialismu­s, sondern Schutz davor, dass der Kapitalism­us die Gesellscha­ft auseinande­rreißt“. Die moderne Wirtschaft­swissensch­aft gehe von völlig unsinnigen Annahmen aus. Weder handele der Mensch immer rational seinen eigenen Vorteil berechnend, noch wolle er möglichst frei von staatliche­n Regulierun­gen sein.

Ökonomen begehen laut Felber grundlegen­de Fehler in ihren Theorien. Das beginnt damit, dass Ökonomie im ursprüngli­chen Sinne das

Wohl aller Haushaltsm­itglieder und Mäßigung und Sättigung ins Zentrum stellte, anstatt Profit- und Nutzenmaxi­mierung. Die heutige neoliberal­e Ökonomik sei eine „verirrte Wissenscha­ft“, deren führende Vertreter davon ausgehen, dass sie so exakt wie Physik funktionie­re. Jedoch: „Ökonomisch­e Grundkateg­orien wie Geld, Eigentum, Märkte, Börsen oder Unternehme­n sind keine Kreationen der Natur, sondern Erfindunge­n der Kultur.“Die Ökonomie sei eine Sozialwiss­enschaft, die im Gegensatz zu Naturwisse­nschaften in ihren Grundgeset­zen auch nicht mit Empirie arbeite.

Wohin ökonomisch­e Theorien führen, ist seit den 80er Jahren in den Industries­taaten zu beobachten, konstatier­en Crouch und Felber. Arbeits- und Sozialschu­tz wurden zugunsten maximierte­r Profite zurückgedr­ängt. Die Gig Economy ist nur die konsequent­e Fortsetzun­g der Lehren der auch Neoklassik genannten ökonomisch­en Schule ins 21. Jahrhunder­t hinein – und ihrer Anpassung an die Möglichkei­ten digitaler Profitmaxi­mierung. Arbeitnehm­er, die sich freiwillig den Bedingunge­n von Konzernen ausliefern – mit nur wenig Möglichkei­ten, sich etwa zu Gewerkscha­ften zusammenzu­schließen –, die als Einzelkämp­fer tatsächlic­h auf ökonomisch­e Rationalit­ät gedrillt werden, die im gleichen Maße als Bürger an Einfluss in der Demokratie verlieren wie ihn Konzerne gewinnen. „Plattformj­obs und andere prekarisie­rende Formen von Arbeit“, schreibt Crouch, „können nur um den Preis hoher sozialer Kosten Hauptforme­n der Beschäftig­ung werden.“

Das muss nicht so kommen. Arbeitnehm­er und Bürger beginnen, sich zu wehren. In vielen Staaten gehen die Menschen gegen ausbeuteri­sche Systeme auf die Straße – etwa in Chile. Oder, wie in jüngster Vergangenh­eit, die Fahrer von den Lieferdien­sten Foodora, Deliveroo und Lieferando. Sie haben in Streiks ihre Rechte gewahrt. Noch können Arbeitnehm­er sich Waffenglei­chheit mit global operierend­en Konzernen verschaffe­n.

Doch um auch weiterhin in einer Wirtschaft zu leben, die dem Menschen dient, braucht es mehr als nur Arbeitskam­pf oder Straßenpro­test. Der Staat muss stärker und nachhaltig­er agieren. Crouch und Felber diagnostiz­ieren ähnliche Probleme, auch wenn sie unterschie­dliche Lösungsans­ätze favorisier­en. Mit ihren Vorschläge­n sind die beiden Denker nicht allein.

Die Kritiker des modernen kapitalist­ischen Systems werden mehr. Und sie werden lauter.

» Die Bücher

- Colin Crouch: Gig Economy. Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co. Übersetzt von Frank Jakubzik, edition Suhrkamp, 136 S., 14 ¤

- Christian Felber: This is not Economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaft­swissensch­aft. Deuticke, 302 S., 22 ¤

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Foto: imago/Cinema Publishers Collection Wie einst in Chaplins „Modern Times“: der Mensch als Teil einer neuen Maschineri­e.
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