„Nicht ganz böse, nicht ganz unschuldig“
Bruno D. war Wachmann im KZ Stutthof. Lange hat das die deutsche Justiz nicht gekümmert. Jetzt steht der 93-Jährige in einem der letzten NS-Prozesse vor Gericht. Über Schuld, Verantwortung und die Rolle des Rechtsstaats
Hamburg Manche sterben leise. Aber da sind auch die verzweifelten Todesschreie, die aus dem kleinen Backsteinbau über das Gelände hallen. Bruno D. hört sie. Er ist Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, knapp 40 Kilometer von Danzig entfernt, und beobachtet immer wieder, wie Menschen in den Backsteinbau geführt werden. Nach ein paar Minuten verstummen die Schreie. Unter den Wachleuten kursieren Gerüchte, was mit den Menschen dort, in der Gaskammer, passiert. Das Wort „Judenvernichtung“fällt. Bruno D. ist ein junger Erwachsener, inmitten eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.
So schildert Bruno D. selbst, was damals, irgendwann zwischen 1944 und 1945, geschah. Er ist inzwischen 93 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl – und steht vor Gericht. Er muss sich seit Oktober vergangenen Jahres vor dem Landgericht Hamburg verantworten. Laut Anklage hat er die „heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge“unterstützt. In 5230 Fällen. In jedem einzelnen soll ein Mensch gestorben sein, als Bruno D. Wachmann in Stutthof war. Er tat seinen Dienst auf den Wachtürmen und begleitete die Häftlinge bei Arbeitseinsätzen. War er dadurch Mithelfer in der nationalsozialistischen Zerstörungsmaschinerie? Oder hatte er gar keine Wahl, weil er Befehlen gehorchen musste?
Bruno D. wurde in der Nähe von Danzig geboren. Weil er bei einer Musterung einen Herzklappenfehler angab, landete er als 17-Jähriger nicht an der Front, sondern als Wachmann im KZ Stutthof. Seine Aufgabe: Bloß keinen entkommen lassen. Viele Gefangene starben in der Gaskammer oder in der Genickschussanlage, andere an Mangelernährung, Krankheit oder weil ihnen medizinische Hilfe verweigert wurde. Insgesamt starben im KZ Stutthof 65000 Menschen – teils unter grausamen Bedingungen.
Nach Kriegsende ließ sich Bruno D. in Hamburg nieder, arbeitete als Lkw-Fahrer und Hausmeister, gründete eine Familie. In den 1970er-Jahren wurde er in einem anderen Verfahren vernommen und in den 1980er-Jahren vom Hamburger Landeskriminalamt befragt. Weil ihm kein konkreter Mord nachgewiesen werden konnte, hatte er nur wenig zu befürchten. Doch das änderte sich 2011. Damals wurde John Demjanjuk, Wachmann im Konzentrationslager Sobibor, wegen Beihilfe zum Mord von über 28000 Menschen verurteilt. Plötzlich interessierte sich die Justiz auch für niedere SS-Ränge – und damit auch für Bruno D., gegen den ab 2016 konkret ermittelt wurde.
Jetzt ist er Angeklagter. Warum, versteht Bruno D. bis heute nicht. Ja, er habe von der Gaskammer gewusst. Und ja, er habe die Schreie gehört. Aber, sagte er zu Prozessbeginn: „Ich wusste nicht, was mit den Leuten geschah. Ich habe gedacht: Was machen sie da mit denen, aber hatte keine Vorstellung gehabt.“Er habe häufig gedacht: „Hoffentlich passiert da heute nichts. Hoffentlich werden heute keine in die Gaskammer hineingeführt.“An vieles könne er sich aber nicht mehr erinnern, erklärte er.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Bruno D. die Möglichkeit gehabt hätte, sich versetzen zu lassen, ohne dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. Davon wusste Bruno D. aber nichts – sagt Stefan Waterkamp, Pflichtverteidiger des Angeklagten, im Gespräch mit unserer Redaktion. „Er hat Dienst nach Vorschrift geleistet und war einfach pflichthörig – nicht weniger, aber auch nicht mehr“, sagt Waterkamp. Ideologische Motive habe sein Mandant nie verfolgt.
Bruno D. ist ein gebrechlicher, alter Mann. Die Verhandlungstage, die wegen seines damaligen Alters vor der Jugendkammer am Hamburger Landgericht stattfinden, dauern nie länger als zwei Stunden. Der 93-Jährige soll dem Prozess auf jeden Fall folgen können. Dass es grundsätzlich verwerflich, da unwürdig sei, einen Greis vor Gericht zu stellen, findet sein Verteidiger Stefan Waterkamp nicht. Ihn störe vielmehr, dass es in diesem Prozess nicht um die Frage gehe, ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht. Sondern? „Darum, den deutschen Staat gut aussehen zu lassen. Der Staat hat sich Jahrzehnte nicht um vernünftige Aufarbeitung der Kriegsverbrechen bemüht und an vielen Stellen versucht zu vertuschen“, sagt Waterkamp. „Aber das hat doch mit dem Angeklagten nichts zu tun.“
Historiker Wolfgang Benz hat sich über viele Jahre mit NS-Verbrechen beschäftigt. Auch er sagt, der Verfolgungseifer von Staatsanwälten und Richtern sei nach dem Krieg „nicht besonders ausgeprägt“gewesen. In der Justiz seien damals viele ehemalige Nazis tätig gewesen, die sich untereinander geschützt hätten. Auch deshalb habe es lange gedauert, bis NS-Verbrechen konsequent verfolgt worden seien – so konsequent, dass sich nun auch einfache Wachmänner verantworten müssten. Dass Bruno D. nun vor
Gericht stehe, halte er für richtig: „Wenn wir das Prinzip Rechtsstaat nicht beiseitewischen wollen, gibt es bei Mordverdacht nichts anderes als Ermittlungen und einen Prozess – auch, wenn ein Urteil möglicherweise nur noch symbolische Bedeutung hat.“
Auch Rajmund Niwinski ist es wichtig, das Verfahren aus seinem historischen Kontext zu lösen. Er vertritt als Anwalt elf von insgesamt 38 Nebenklägern – darunter viele Überlebende des Konzentrationslagers Stutthof – und sagt: „Es geht nicht darum, alte Nazis zu bestrafen. Sondern darum, dass wir alle erkennen müssen, was richtig und was falsch ist.“An die Geschichte zu erinnern, sei wichtig, sagt Niwinski gegenüber unserer Redaktion. Im Kontext von NS-Verbrechen werde aber allzu oft relativiert, heute könne so etwas gar nicht mehr passieren, das gehe uns nichts mehr an – eine Haltung, die just auch von einer Demonstration ausging, die die NPD zu Prozessbeginn in der Hamburger Innenstadt veranstaltete. Ihr Motto: „Mehr Menschenwürde in der Justiz“. Bruno D. sei damit aber überhaupt nicht einverstanden, sagt sein Anwalt Stefan Waterkamp. „Er will mit diesen Leuten nichts zu tun haben und will deren Beistand nicht.“
Nebenklage-Vertreter Niwinski sagt, der Angeklagte wirke auf ihn „weder ganz böse noch ganz unschuldig. Aber er ist schlicht jemand, der in seiner Jugend Böses getan hat. Und wer Böses getan hat, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“Ihm sei wichtig, dass vom Prozess diese allgemeinere Botschaft ausgehe. „Dann hat er eine Wirkung, die wir auf uns alle übertragen können.“
Ursprünglich waren in dem Prozess 34 Verhandlungstermine vorgesehen, nun ist er wegen des Coronavirus ins Stocken geraten. Wann und ob es weitergeht, ist offen. Beobachter gehen davon aus, dass es eines der letzten Male ist, dass sich ein Beteiligter an NS-Verbrechen vor Gericht verantworten muss. Heute, über 70 Jahre danach.