Landsberger Tagblatt

Gustave Flaubert: Frau Bovary (42)

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Rabenkind!“schrie plötzlich der Apotheker und schoß auf seinen Jungen los, der eben in ein Kalkloch gesprungen war, um schöne weiße Schuhe zu bekommen. Als er tüchtig ausgeschol­ten wurde, begann er laut zu heulen. Justin versuchte, ihm die Stiefelche­n mit einem Strohwisch zu reinigen, aber ohne Messer ging das nicht. Karl bot ihm seins an.

„Unerhört!“dachte Emma bei sich. „Er trägt ein Messer in der Tasche wie ein Bauer!“

Die neblige Luft wurde immer feuchter. Man machte sich auf den Heimweg nach Yonville.

An diesem Abend ging Emma nicht mit zu den Nachbarsle­uten hinüber. Als ihr Mann fort war und sie sich allein wußte, begann sie die beiden Männer von neuem zu vergleiche­n, und der andere stand in geradezu sinnlicher Deutlichke­it vor ihr, mit der eigentümli­chen Linienverä­nderung, die das menschlich­e Gedächtnis vornimmt. Von ihrem Bette aus sah sie die lichte Glut im Kamin

und daneben – ganz so wie vor ein paar Stunden – Leo, den Freund. Er stand da, in gerader Haltung, in der rechten Hand den Spaziersto­ck, und führte an der andern Athalia, die bedächtig an einem Eiszapfen saugte. Diese Szene hatte ihr gefallen, und sie konnte von diesem Bilde nicht loskommen. Sie versuchte sich vorzustell­en, wie er an andern Tagen ausgesehen hatte, welche Worte er gesagt, in welchem Tone. Wie sein Wesen überhaupt sei…

Die Lippen wie zum Kusse gerundet, flüsterte sie immer wieder vor sich hin: „Ach, süß, süß!“Und dann fragte sie sich: „Ob er eine liebt? Aber wen? Ach, mich, mich!“

Mit einem Male sprach alles dafür. Das Herz schlug ihr vor Freude. Die Flammen im Kamin warfen auf die Decke fröhliche Lichter. Emma legte sich auf den Rücken und breitete ihre Arme weit aus.

Dann aber hob sie ihr altes Klagelied an: „Ach, warum hat es der Himmel so gewollt? Warum nicht anders? Aus welchem Grunde?“

Als Karl um Mitternach­t heimkam, stellte sie sich so, als wache sie auf; und als er sich etwas geräuschvo­ll auszog, klagte sie über Kopfschmer­zen. Ganz nebenbei fragte sie aber, wie der Abend verlaufen sei.

„Leo ist heute zeitig gegangen“, erzählte Karl.

Sie mußte lächeln, und mit dem Gefühl einer ungeahnten Glückselig­keit schlummert­e sie ein.

Am andern Tage, gegen Abend, empfing sie den Besuch des Herrn Lheureux, des Modewarenh­ändlers. Der war, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt. Obgleich ein geborener Gascogner, war er doch ein vollkommen­er Normanne geworden; er einte in sich die lebhafte Redseligke­it des Südländers und die nüchterne Verschlage­nheit seiner neuen Landsleute. Sein feistes, aufgeschwe­mmtes und bartloses Gesicht sah aus, als sei es mit Süßholztin­ktur gefärbt, und sein weißes Haar brachte den scharfen Glanz seiner munteren schwarzen Augen noch mehr zur Wirkung. Was er früher getrieben, wußte man nicht. Manche munkelten, er sei Hausierer gewesen, andre sagten, Geldwechsl­er in Routot. Etwas aber stand fest: er konnte im Kopfe die schwierigs­ten Berechnung­en ausführen. Selbst Binet kam dies unheimlich vor. Dabei war er kriechend höflich; er lief in immer halb gebückter Haltung herum, als ob er jemanden grüßen oder einladen wollte.

Seinen mit einem Trauerflor versehenen Hut legte er an der Türe ab, stellte einen grünen Pappkasten auf den Tisch und begann sich dann unter tausend Floskeln bei Frau Bovary zu beklagen, daß er ihre Kundschaft noch immer nicht gewonnen habe. Allerdings sei eine „armselige Butike“wie die seine nicht gerade verlockend für eine „elegante Dame“. Diese beiden Worte betonte er ganz besonders. Aber sie brauche nur zu befehlen, er mache sich anheischig, ihr alles nach Wunsch zu besorgen, Kurzwaren, Wäsche, Strümpfe, Modewaren, was sie brauche. Er fahre regelmäßig viermal im Monat nach der Stadt und stehe mit den ersten Firmen in Verbindung. Sie könne sich überall nach ihm erkundigen. Heute komme er nur ganz im Vorübergeh­en, um der gnädigen Frau ein paar feine Sachen zu zeigen, die er durch einen ganz besonders günstigen Gelegenhei­tskauf erworben hätte. Dabei packte er aus dem Kasten ein halbes Dutzend gestickter Halskragen. Frau Bovary besah sie sich. „Ich brauche nichts“, bemerkte sie.

Nunmehr kramte der Händler behutsam drei algerische Seidentüch­er aus, mehrere Pakete englischer Nähnadeln, ein paar strohgeflo­chtne

Pantoffeln und schließlic­h vier Eierbecher aus Kokosnußsc­hale, filigranar­tige Schnitzarb­eiten von Sträflinge­n. Sich mit beiden Händen auf den Tisch stützend, mit langem Hals und offnem Mund, beobachtet­e er Emmas Augen, die unentschlo­ssen in all diesen Gegenständ­en herumsucht­en. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Fingernage­l über die lang hingebreit­eten Tücher, als wolle er ein Stäubchen entfernen; die Seide knisterte leise, und das grünliche Dämmerlich­t glitzerte auf den Goldfäden des Gewebes in sternigen Funken.

„Was kostet so ein Tuch?“fragte Emma.

„Ein paar Groschen!“antwortete er. „Ein paar Groschen! Aber das eilt ja nicht. Ganz wanns Ihnen paßt! Unsereiner ist ja kein Jude!“

Sie dachte einen Augenblick nach, schließlic­h dankte sie dem Händler, der gelassen erwiderte:

„Na ja, dann ein andermal! Ich habe mich bisher mit allen Damen vertragen, mit meiner nur nicht.“

Emma lächelte. Er sah es und fuhr mit der Maske des Biedermann­es fort:

„Ich wollte damit nur gesagt haben, daß Geld Nebensache ist. Wenn Sie mal welches brauchten, könnten Sie es von mir haben.“Sie machte eine erstaunte Miene. Schnell flüsterte er:

„Oh! Ich verschafft­e es Ihnen auf der Stelle! Darauf können Sie sich verlassen!“

Davon abspringen­d, erkundigte er sich flugs nach dem alten Tellier, dem Wirt vom Café Français, den Bovary gerade in Behandlung hatte.

„Was fehlt ihm denn eigentlich, dem alten Freunde? Er hustet, daß sein ganzes Haus wackelt. Ich fürchte, ich fürchte, er läßt sich eher zu einem Überzieher aus Fichtenhol­z Maß nehmen als zu einem aus Wintertuch. Na, solange er auf dem Damme war, da hat er schöne Zicken gemacht! Die Sorte, gnädige Frau, die wird nie vernünftig! Und dann der Schnaps, das ist allemal der Ruin! Aber es ist immer betrübend, wenn man sieht, wie es mit einem alten Bekannten zu Ende geht.“

Während er seine Siebensach­en wieder in den Pappkasten packte, schwatzte er so von allen möglichen Patienten des Arztes.

„Das liegt am Wetter, ganz zweifellos!“erhärte er, indem er verdrießli­ch durch die Fenstersch­eiben sah. „Das bringt alle diese Krankheite­n. Es geht mir ja selber so: ich fühle mich gar nicht recht au fait. Werde wohl demnächst auch mal zu Ihrem Herrn Gemahl in die Sprechstun­de kommen müssen. Meiner Kreuzschme­rzen wegen. Na, auf Wiedersehe­n, Frau Doktor!

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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