Landsberger Tagblatt

„Wenn wir so weitermach­en, sterben wir als Spezies aus“

Der italienisc­he Neurobiolo­ge Stefano Mancuso über menschlich­e Dummheit, die Intelligen­z der Pflanzen und warum wir die Corona-Pandemie als freundlich­en Hinweis annehmen sollten

- Interview: Julius Müller-Meiningen

Die Welt steckt mitten in einer Virus-Pandemie. Warum hat es Sinn, sich jetzt an den Pflanzen zu orientiere­n?

Stefano Mancuso: Schauen wir doch erst einmal, was wir angerichte­t haben. Eine der Konsequenz­en unseres katastroph­alen Fingerabdr­ucks, den wir auf der Erde hinterlass­en, ist die Verbreitun­g vieler Krankheite­n, vieler Viren, die vom Tier auf den Menschen übergehen. Wir wissen das seit Jahren. 2009 wurde in der Zeitschrif­t Nature eine Untersuchu­ng vorgestell­t, die zeigt, dass sich der Übergang von epidemisch­en Krankheite­n vom Tier auf den Menschen in den vergangene­n 40 Jahren verdreifac­ht hat.

Und dafür sind wir selbst verantwort­lich?

Mancuso: Ohne Zweifel. Der Hauptgrund ist, dass wir die natürliche­n Rückzugsrä­ume der Tiere zerstören. Wir zerstören die Lebensräum­e etwa der Fledermäus­e, die Coronavire­n in sich tragen, wir zerstören die Urwälder, wir bauen neue Städte, dort, wo vorher keine waren. Der Übertritt solcher Viren auf den Menschen wird damit unvermeidb­ar. Schauen wir uns die Pflanzen an. Sie sind seit Millionen von Jahren auf der Erde und wissen, wie sie hier überleben. Der Mensch hingegen denkt nur an sich selbst, wir haben eine komplett anthropoze­ntrische Sicht auf alles. Doch wenn wir die Welt nur aus unserer Perspektiv­e betrachten, werden wir als Art nicht überleben. Ich meine das nicht moralisch, mir geht es wirklich nur um eine Frage des Überlebens.

Warum soll die anthropoze­ntrische Sicht gefährlich sein?

Mancuso: Uns ist nicht wirklich bewusst, dass wir ein Teil der Natur sind. Wir sind keine Wesen, die außerhalb dieses Zusammenha­ngs existieren. Unser Überleben als Spezies ist nur garantiert, wenn das Überleben der anderen Arten sicher ist. Für uns als Menschen ist es notwendig, dass diese Gemeinscha­ft der Arten auf der Erde erhalten bleibt.

Was also können wir von den Pflanzen lernen?

Mancuso: Eine Pflanze würde niemals mehr Ressourcen verbrauche­n als ihr zur Verfügung stehen. Pflanzen können nur die Ressourcen nutzen, die sich in dem Stück Erde befinden, auf dem sie leben. Das ist bei uns nicht wesentlich anders. Wir sitzen auf diesem Planeten fest, natürlich ist die Fläche wesentlich größer. Aber der Gedanke ist derselbe: Wir können nicht mehr Ressourcen verbrauche­n als die Erde uns geben kann. Aber genau das tun wir. Wir tun so, als ob die Ressourcen unendlich zur Verfügung stünden. Das ist eine typische Ausprägung menschlich­er Dummheit.

Sie vertreten hingegen die These von der „Intelligen­z“der Pflanzen. Warum?

Mancuso: Ich streite mich oft über die angebliche Überlegenh­eit der menschlich­en Intelligen­z gegenüber der Intelligen­z der Pflanzen. Das oberste Ziel einer Spezies ist das Überleben der eigenen Spezies. Die Fortpflanz­ung ist das erste Ziel. Alles andere ist sekundär. Aus dieser Perspektiv­e ist der Mensch mit weitem Abstand eine der am wenigsten überlebens­fähigen Arten, die es je auf der Erde gab.

Inwiefern?

Mancuso: Wir sind als Spezies seit 300000 Jahren auf der Erde. Seit etwa 15 000 Jahren existiert das, was wir menschlich­e Zivilisati­on nennen. Und in dieser Zeit, vor allem in den letzten Jahren, haben wir es sozusagen in rasender Geschwindi­gkeit geschafft, den Planeten in den erbärmlich­en Zustand zu bringen, in dem er sich jetzt befindet.

Wir sind als Art eben noch vergleichs­weise jung…

Mancuso: Das durchschni­ttliche Leben einer Spezies auf der Erde beträgt fünf Millionen Jahre. Um im Durchschni­tt zu bleiben, müssten wir als Art also noch 4,7 Millionen Jahre existieren, eine unvorstell­bare lange Zeit für uns. Wir denken in wenigen Tausenden Jahren. Wird es uns in 1000 Jahren noch geben? Wer weiß! Wenn wir so weiter machen, sicher nicht.

Ist unsere Intelligen­z, das Gehirn, unser Geist in Wahrheit der Kern des Problems?

Mancuso: Die Vorstellun­g, dass wir den anderen Lebewesen überlegen sind, ist die größte Quelle unserer Probleme. Wir denken, dass unser großartige­s und zu logischem Denken fähiges Gehirn, auf das wir so stolz sind, unsere Stärke ist. Dass uns unser Gehirn anderen Lebewesen überlegen macht. Ich behaupte hingegen: Wer das behauptet, hat nie Darwin gelesen und weiß überhaupt nicht, was er in seiner Evolutions­theorie eigentlich behauptet hat.

Wie ist die Evolutions­theorie denn zu verstehen?

Mancuso: Die Tatsache, dass wir dieses Gehirn haben, das uns zu Dingen befähigt, die andere Lebewesen nicht können, hat keinerlei Bedeutung im Hinblick auf die Evolution. Die einzig interessan­te Frage lautet: Hilft uns diese Fähigkeit dabei, unsere Art länger oder weniger lang am Leben zu halten? Handelt es sich um einen evolutionä­ren Vorteil oder um einen Nachteil? Darum geht es. Das Gehirn kann natürlich ein evolutionä­rer Vorteil werden, aber derzeit benutzen wir es nicht auf diese Weise. Wir nutzen das Gehirn als Nachteil.

Welche Rolle spielt der Klimawande­l?

Mancuso: Eine der Folgen der Erderwärmu­ng ist, dass die Tiere sich in Richtung Norden bewegen. Es ist bereits eine Wanderung des Lebens von Süden nach Norden im Gange, weil es im Süden zu heiß ist. Das bedeutet wiederum, dass wir in Kontakt mit Tierarten kommen werden, mit denen wir nie etwas zu tun hatten. Die Temperatur eines Organismus ist der wichtigste Parameter im Hinblick auf jede chemische, physische oder biologisch­e Reaktion. Die optimistis­chsten Modelle sagen bis Ende des Jahrhunder­ts eine Temperatur­erhödas hung von sechs Grad vorher. Das ist ein apokalypti­sches Szenario. Aber wir verstehen es nicht. Wir haben nicht einmal eine vage Vorstellun­g davon, was passieren wird.

Was wird denn passieren?

Mancuso: Pandemien werden in Zukunft noch häufiger. Auch im Mittelalte­r gab es tödliche Viren, auch in den vergangene­n Jahrhunder­ten. Die Epidemien blieben lokal. Heute ist es das anders. Ob eine Epidemie in China, Italien, Japan oder Spanien ausbricht, ist völlig gleich. Innerhalb einer Woche breitet sie sich auf der ganzen Welt aus. Auch deshalb werden wir mit diesen Gefahren in Zukunft immer mehr zu tun haben. Mir kommt es wirklich so vor, als ob uns die Natur eine letzte Chance gibt, eine Art freundlich­en Schubser.

Was meinen Sie damit? Bislang forderte Covid-19 über 80000 Todesopfer weltweit.

Mancuso: Im Hinblick auf die Weltbevölk­erung ist die Zahl der Toten gering. Die Botschaft lautet: Wenn ihr euch nicht ändert, wenn ihr euch nicht an die Natur anpasst, werden apokalypti­sche Dinge geschehen. Vor ein paar Monaten wurden in der Antarktis 19 Grad Celsius gemessen. 19 Grad in der Antarktis, das ist unvorstell­bar! Wir sollten die gegenwärti­ge Pandemie wirklich als Hinweis annehmen. Wenn wir uns nicht verändern, und zwar schnell, können wir uns in Zukunft auf viel Schlimmere­s einstellen.

Wenn wir uns so schnell verändert haben, dann wäre das auch schnell wieder rückgängig zu machen?

Mancuso: Ja, aber wir müssen sofort aktiv werden, alle zusammen. Es ist eindrucksv­oll zu sehen, wie viele Menschen sich derzeit genau gleich verhalten. Wir sind alle zuhause, Ich hätte nicht gedacht, dass eher undiszipli­nierte Bevölkerun­gen wie die italienisc­he oder die spanische so geschlosse­n die Anforderun­gen erfüllen und in ihren Wohnungen bleiben. Das stimmt mich positiv. Denn

bedeutet, man kann Verhaltens­weisen sehr schnell ändern, vorausgese­tzt, man erklärt den Menschen die Konsequenz­en.

Wie würden die Pflanzen auf so eine Herausford­erung reagieren? Was könnten wir jetzt von ihnen lernen?

Mancuso: Na ja, wir leben gerade alle in einer Art vegetative­n Zustand. Ein paar Milliarden Menschen auf der Welt. Wir können uns nicht frei bewegen. Die Pflanzen leben immer so. Ihr wichtigste­s Erfolgsrez­ept ist ihr Gemeinsinn. Den könnten wir uns abschauen. Pflanzen wetteifern nur in wenigen Ausnahmen mit anderen Pflanzen oder Lebewesen. Anstatt zu wetteifern, schaffen sie Gemeinscha­ften, die zusammen leben. Pflanzen, Tiere, Insekten, Mikroorgan­ismen.

Aber in einem Wald wetteifern die Bäume doch um Licht?

Mancuso: Unsere Wälder sind alle vom Menschen angelegt. In Europa haben wir keine ursprüngli­chen

Wälder mehr, sondern vom Menschen gepflanzte. Im Grunde gibt es keinen Unterschie­d zwischen einem Maisfeld und einem gepflanzte­n Wald. Mit echten Pflanzen, die sich ganz natürlich in ihrem Umfeld entwickeln, hat das nichts zu tun. Einen echten Wald, einen Urwald müssen wir uns weniger als eine Ansammlung von Individuen vorstellen, sondern eher als ein einziges Megaindivi­duum, einen Superorgan­ismus, in dem alles miteinande­r verbunden ist und in dem ein ständiger Austausch von Informatio­nen, Nährstoffe­n und Ressourcen vonstatten­geht.

Was bedeutet das auf uns übertragen?

Mancuso: Der wichtigste Faktor der Evolution ist nicht der Wettbewerb. Unser Gehirn kann uns dabei helfen, den nächsten Schritt zu gehen. Der wäre, uns nicht über die anderen Lebewesen zu erheben, sondern eine Lebensform wie die der Pflanzen zu verstehen und einzusehen, dass Kooperatio­n viel erfolgreic­her ist als Konkurrenz. Kooperatio­n ist für das Überleben der Spezies wesentlich aussichtsr­eicher.

Sie sagten vorhin, Arten, die dem Ganzen nicht nützen, sterben aus. Steht die gegenwärti­ge Pandemie in diesem Zusammenha­ng?

Mancuso: Vor einigen Jahrzehnte­n entwickelt­e der britische Wissenscha­ftler James Lovelock eine großartige Theorie, die sogenannte GaiaHypoth­ese. Sie besagt: Wir müssen uns unseren Planeten mit allen Lebewesen als ein einziges großes Lebewesen vorstellen. Die Erde ist ein einziges Lebewesen. Alles ist im Gleichgewi­cht, wie beim Menschen. Bei uns muss der pH-Wert im Blut immer ungefähr gleich bleiben oder der Zuckergeha­lt. Wenn nicht, greifen Mechanisme­n, die für den nötigen Ausgleich sorgen. Wir nennen das Homöostase. James Lovelock nahm dasselbe für die Erde an. Wenn es einen Faktor gibt, der für ein Ungleichge­wicht sorgt, in diesem Fall die Menschen mit ihren Aktionen, trifft der Mega-Organismus Vorkehrung­en, die die Homöostase wieder herstellen und alle Parameter ins Gleichgewi­cht bringen. So gesehen handelt es sich bei der gegenwärti­gen Pandemie wirklich um einen Wink mit dem Zaunpfahl.

Die Frage ist, ob wir die Botschaft verstehen und reagieren…

Mancuso: Es ist ein bisschen wie mit der Mafia. Beim ersten Mal warnt sie dich und macht ein bisschen was kaputt. Beim nächsten Mal legt sie eine Bombe und dann bringt sie dich um.

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