Corona und die Macht des Zufalls
Statistiken bergen Unsicherheiten: Die Zahl der Infizierten könnte drei Mal so hoch sein. Je länger die Pandemie dauert, desto besser werden die Prognosen als Basis für politische Entscheidungen /
Die Corona-Krise ist geprägt durch eine breite Verunsicherung in Politik und Gesellschaft. Die kaum überschaubaren zufälligen Einflüsse auf das pandemische Geschehen beeinträchtigen unser Sicherheitsgefühl und erschweren die von uns so geschätzte Planbarkeit, angefangen von der wirtschaftlichen Situation bis zum Sommerurlaub: Die Macht des Zufalls war selten für die ganze Gesellschaft so spürbar wie in diesen Tagen, und der Ruf an die Wissenschaft, durch Prognosen neue Planungssicherheit zu ermöglichen, wird immer lauter. Doch Prognosen sind in diesen Zeiten ein heikles Unterfangen.
Die mathematischen Modelle zur Beschreibung von Pandemien basieren auf Entwicklungsgleichungen, in denen unter anderem die Geschwindigkeit der Ausbreitung, die Krankheitsdauer und die Letalitätsrate (Sterberate) durch Parameter festgelegt sind. Komplexere Modelle berücksichtigen, dass sehr viele Vorgänge im Verlauf einer Pandemie zufällig sind. Hier kommt die Statistik ins Spiel: Sie beschäftigt sich als Wissenschaft mit Vorgängen, die von zufälligen Faktoren beeinflusst werden, und versucht, aus Daten Erkenntnisse zu gewinnen. Dabei ist sie in der Lage, nicht nur Vorhersagen zu treffen, sondern auch Unsicherheitsbereiche für diese Vorhersagen anzugeben. Diese Unsicherheitsbereiche bestimmen am Ende, wie sicher die Erkenntnisse sind, die aus den Daten abgeleitet werden können. Die Größe der Unsicherheitsbereiche wird im Wesentlichen durch drei Faktoren bestimmt: durch die Menge der vorhandenen Daten, durch deren Qualität und durch das Ausmaß an zufälligen Faktoren. Je geringer die Menge und Qualität der Daten und je stärker der Einfluss der zufälligen Faktoren, desto größer die Unsicherheitsbereiche.
Auch bei Corona kommen schon bei den Daten Unsicherheiten ins Spiel: zum einen die Anzahl der bisher mit Corona Infizierten. Hier gehen verschiedene Schätzungen davon aus, dass die Zahl mindestens um den Faktor 3 höher ist als die Zahl der positiv Getesteten, die täglich vom RKI oder der Johns Hopkins University berichtet wird. Durch aktuell laufende Studien wird derzeit versucht, diesen Faktor genauer zu ermitteln. Dies hat einen wichtigen Effekt auf die
Berechnung der Letalitätsrate. Eine weitere Unsicherheit ergibt sich dadurch, dass die am Anfang einer Pandemie positiv Getesteten möglicherweise noch keine repräsentative Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung darstellen, insbesondere was die Altersstruktur anbelangt. Auch hier werden die Studien sehr viel mehr Klarheit bringen. Erst wenn in einigen Wochen diese Unsicherheiten weitestgehend beseitigt sind, können wir genau einschätzen, wie schwerwiegend Corona für Deutschland, wo ohne Pandemie etwa 900 000 Menschen pro Jahr sterben, wirklich ist. Anschließend können die Modelle für die Prognose benutzt werden.
Doch hier tauchen neue zufällige Faktoren auf: Während die Bevölkerung in Deutschland aktuell offenbar eine großartige Disziplin an den Tag legt und beweist, zu welchem solidarischen Verantwortungsbewusstsein sie fähig ist, stehen Befürchtungen im Raum, sie könne diesen Pfad der Tugend bald verlassen. Auch die Auswirkungen der jüngst bekannt gegebenen Lockerungen im gesellschaftlichen Alltag werden erst in etwa vier Wochen beurteilt werden können.
Diese Tatsachen erschweren eine Prognose der zukünftigen Entwicklung massiv.
Wissenschaft und Politik stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, trotz der vielen Unsicherheiten die Gesellschaft durch die nächsten Monate zu navigieren. Dabei sind mehrere Ziele auszumachen, wobei wir uns hier auf drei offensichtliche beschränken. Hauptziel ist es derzeit, um (fast) jeden Preis die Zahl der Corona-Intensivpatienten unter der Kapazitätsgrenze des deutschen Gesundheitssystems zu halten, um jeder und jedem Infizierten eine optimale Behandlung zu ermöglichen. Diese Zielsetzung der Regierung ist aus ethischer Sicht alternativlos, zumal damit weitestgehend auch ein zweites Ziel erreicht werden kann, nämlich die Anzahl der Corona-Toten zu minimieren. Und natürlich besteht ein drittes Ziel darin, die Auswirkungen und Kosten der restriktiven Maßnahmen für die Wirtschaft und Gesellschaft möglichst gering zu halten. Letztlich muss man diesen Zielen Prioritäten zuordnen und doch versuchen, alle Ziele gewissermaßen gleichzeitig zu verfolgen.
Der Regierung ist ein durchwegs verantwortungsvolles Handeln zu bescheinigen, wenn sie sich mit mittelfristigen Exit-Strategien in Richtung Normalität noch zurückhält. Erst wenn wir gesicherte Erkenntnisse über die wahre Verbreitung des Virus und dessen Gefahr für die Bevölkerung haben, werden auch die Prognosen verlässlicher.
Die wissenschaftlichen Analysen müssen sich dabei daran messen lassen, ob sie die vielfältigen zufälligen Einflüsse sinnvoll einbeziehen und nachvollziehbare Unsicherheitsbereiche für die Schätzungen und Prognosen angeben, denn ohne sie sind die Erkenntnisse nebulös bis irreführend. Nachdem mit den bisherigen Maßnahmen ein Kollaps der Intensivstationen verhindert werden konnte, sind in Anbetracht der noch bestehenden großen Unsicherheiten kleine und vorsichtige Veränderungen das Beste, zu dem die Wissenschaft raten kann.