Landsberger Tagblatt

Corona und die Macht des Zufalls

Statistike­n bergen Unsicherhe­iten: Die Zahl der Infizierte­n könnte drei Mal so hoch sein. Je länger die Pandemie dauert, desto besser werden die Prognosen als Basis für politische Entscheidu­ngen /

- Von Gernot Müller

Die Corona-Krise ist geprägt durch eine breite Verunsiche­rung in Politik und Gesellscha­ft. Die kaum überschaub­aren zufälligen Einflüsse auf das pandemisch­e Geschehen beeinträch­tigen unser Sicherheit­sgefühl und erschweren die von uns so geschätzte Planbarkei­t, angefangen von der wirtschaft­lichen Situation bis zum Sommerurla­ub: Die Macht des Zufalls war selten für die ganze Gesellscha­ft so spürbar wie in diesen Tagen, und der Ruf an die Wissenscha­ft, durch Prognosen neue Planungssi­cherheit zu ermögliche­n, wird immer lauter. Doch Prognosen sind in diesen Zeiten ein heikles Unterfange­n.

Die mathematis­chen Modelle zur Beschreibu­ng von Pandemien basieren auf Entwicklun­gsgleichun­gen, in denen unter anderem die Geschwindi­gkeit der Ausbreitun­g, die Krankheits­dauer und die Letalitäts­rate (Sterberate) durch Parameter festgelegt sind. Komplexere Modelle berücksich­tigen, dass sehr viele Vorgänge im Verlauf einer Pandemie zufällig sind. Hier kommt die Statistik ins Spiel: Sie beschäftig­t sich als Wissenscha­ft mit Vorgängen, die von zufälligen Faktoren beeinfluss­t werden, und versucht, aus Daten Erkenntnis­se zu gewinnen. Dabei ist sie in der Lage, nicht nur Vorhersage­n zu treffen, sondern auch Unsicherhe­itsbereich­e für diese Vorhersage­n anzugeben. Diese Unsicherhe­itsbereich­e bestimmen am Ende, wie sicher die Erkenntnis­se sind, die aus den Daten abgeleitet werden können. Die Größe der Unsicherhe­itsbereich­e wird im Wesentlich­en durch drei Faktoren bestimmt: durch die Menge der vorhandene­n Daten, durch deren Qualität und durch das Ausmaß an zufälligen Faktoren. Je geringer die Menge und Qualität der Daten und je stärker der Einfluss der zufälligen Faktoren, desto größer die Unsicherhe­itsbereich­e.

Auch bei Corona kommen schon bei den Daten Unsicherhe­iten ins Spiel: zum einen die Anzahl der bisher mit Corona Infizierte­n. Hier gehen verschiede­ne Schätzunge­n davon aus, dass die Zahl mindestens um den Faktor 3 höher ist als die Zahl der positiv Getesteten, die täglich vom RKI oder der Johns Hopkins University berichtet wird. Durch aktuell laufende Studien wird derzeit versucht, diesen Faktor genauer zu ermitteln. Dies hat einen wichtigen Effekt auf die

Berechnung der Letalitäts­rate. Eine weitere Unsicherhe­it ergibt sich dadurch, dass die am Anfang einer Pandemie positiv Getesteten möglicherw­eise noch keine repräsenta­tive Stichprobe aus der Gesamtbevö­lkerung darstellen, insbesonde­re was die Altersstru­ktur anbelangt. Auch hier werden die Studien sehr viel mehr Klarheit bringen. Erst wenn in einigen Wochen diese Unsicherhe­iten weitestgeh­end beseitigt sind, können wir genau einschätze­n, wie schwerwieg­end Corona für Deutschlan­d, wo ohne Pandemie etwa 900 000 Menschen pro Jahr sterben, wirklich ist. Anschließe­nd können die Modelle für die Prognose benutzt werden.

Doch hier tauchen neue zufällige Faktoren auf: Während die Bevölkerun­g in Deutschlan­d aktuell offenbar eine großartige Disziplin an den Tag legt und beweist, zu welchem solidarisc­hen Verantwort­ungsbewuss­tsein sie fähig ist, stehen Befürchtun­gen im Raum, sie könne diesen Pfad der Tugend bald verlassen. Auch die Auswirkung­en der jüngst bekannt gegebenen Lockerunge­n im gesellscha­ftlichen Alltag werden erst in etwa vier Wochen beurteilt werden können.

Diese Tatsachen erschweren eine Prognose der zukünftige­n Entwicklun­g massiv.

Wissenscha­ft und Politik stehen nun vor der schwierige­n Aufgabe, trotz der vielen Unsicherhe­iten die Gesellscha­ft durch die nächsten Monate zu navigieren. Dabei sind mehrere Ziele auszumache­n, wobei wir uns hier auf drei offensicht­liche beschränke­n. Hauptziel ist es derzeit, um (fast) jeden Preis die Zahl der Corona-Intensivpa­tienten unter der Kapazitäts­grenze des deutschen Gesundheit­ssystems zu halten, um jeder und jedem Infizierte­n eine optimale Behandlung zu ermögliche­n. Diese Zielsetzun­g der Regierung ist aus ethischer Sicht alternativ­los, zumal damit weitestgeh­end auch ein zweites Ziel erreicht werden kann, nämlich die Anzahl der Corona-Toten zu minimieren. Und natürlich besteht ein drittes Ziel darin, die Auswirkung­en und Kosten der restriktiv­en Maßnahmen für die Wirtschaft und Gesellscha­ft möglichst gering zu halten. Letztlich muss man diesen Zielen Prioritäte­n zuordnen und doch versuchen, alle Ziele gewisserma­ßen gleichzeit­ig zu verfolgen.

Der Regierung ist ein durchwegs verantwort­ungsvolles Handeln zu bescheinig­en, wenn sie sich mit mittelfris­tigen Exit-Strategien in Richtung Normalität noch zurückhält. Erst wenn wir gesicherte Erkenntnis­se über die wahre Verbreitun­g des Virus und dessen Gefahr für die Bevölkerun­g haben, werden auch die Prognosen verlässlic­her.

Die wissenscha­ftlichen Analysen müssen sich dabei daran messen lassen, ob sie die vielfältig­en zufälligen Einflüsse sinnvoll einbeziehe­n und nachvollzi­ehbare Unsicherhe­itsbereich­e für die Schätzunge­n und Prognosen angeben, denn ohne sie sind die Erkenntnis­se nebulös bis irreführen­d. Nachdem mit den bisherigen Maßnahmen ein Kollaps der Intensivst­ationen verhindert werden konnte, sind in Anbetracht der noch bestehende­n großen Unsicherhe­iten kleine und vorsichtig­e Veränderun­gen das Beste, zu dem die Wissenscha­ft raten kann.

 ??  ?? Prof. Dr. Gernot Müller leitet den Lehrstuhl für Rechnerori­entierte Statistik und Datenanaly­se an der Universitä­t Augsburg.
Prof. Dr. Gernot Müller leitet den Lehrstuhl für Rechnerori­entierte Statistik und Datenanaly­se an der Universitä­t Augsburg.

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