Landsberger Tagblatt

Die Helden sind müde

Pandemie Der Pflegenots­tand wurde lange vor Corona akut. Jetzt ist das Virus da und Kranken- und Altenpfleg­er arbeiten am Limit. Dafür erhalten sie Beifall und Sonderzahl­ungen. Und wenn die Krise wieder vorbei ist? Die Gefeierten ahnen schon Schlimmes

- VON FABIAN HUBER

Ingolstadt/Neuburg Der Tod kündigte sich leise an, mit leichtem Fieber und Husten. Elisabeth Klein reagierte sofort: alle in ihre Zimmer, keine Brettspiel­e mehr im Gemeinscha­ftsraum, Shutdown im Seniorenhe­im der Banater Schwaben in Ingolstadt. Eine 93-jährige Bewohnerin wurde ins Krankenhau­s verlegt. Drei Tage später, es war Freitag, der 3. April, war sie tot, positiv getestet auf Covid-19. „Und dann hat das seinen Lauf genommen“, erzählt Heimleiter­in Klein.

Das Gesundheit­samt verordnete Quarantäne und Reihentest­s. Sechs Tage nach dem ersten Todesfall war ein großer Teil des Heims infiziert: 15 Mitarbeite­r, 25 Bewohner. Acht Senioren sind inzwischen gestorben. Ob durch oder mit Corona, lässt sich nicht genau sagen. Alle hatten entspreche­nde Vorerkrank­ungen, viele waren bereits in Palliativb­ehandlung. So oder so: Das Virus hat sich zu einem Killer entwickelt.

Wie kam es ins Haus? Aus den Krankenhäu­sern, in die die Bewohner regelmäßig eingeliefe­rt werden? Von den Pflegekräf­ten? Weil am Anfang der Corona-Krise nur Mund-Nasen-Schutz vorrätig war, nicht aber die besonders sicheren FFP2-Masken? Klein weiß es nicht. Nur das: Sie will nicht, dass das Heim als Seuchenhei­m in der Öffentlich­keit dasteht.

Was die Banater Schwaben gerade durchmache­n, geschieht in vielen Heimen Deutschlan­ds. Wolfsburg. Würzburg. Waal. Aichach. Oder eben Ingolstadt. Ein Großteil der Corona-Toten in Bayern kommt aus Alten- und Pflegeeinr­ichtungen, sagte Ministerpr­äsident Markus Söder bei seiner Pressekonf­erenz am Donnerstag. Deren Mitarbeite­r sind jetzt noch mehr gefordert als eh schon. Sie werden als Helden gefeiert. Und nicht nur sie.

Plötzlich bündelt sich das Scheinwerf­erlicht überall dort, wo es sonst nie hinscheint. Über Müllmänner­n, Kassiereri­nnen, Pflegerinn­en. Für viele Mitbürger waren sie lange einfach nur da, weil sie zuverlässi­g die Tonne leerten, den Einkauf über den Scanner zogen, Opa nach seinem Schlaganfa­ll wieder hinbekamen. Sie hielten alles zusammen, ohne sichtbar zu sein, wie Mörtel in einer Mauer.

Diesen Menschen verleiht ein Land jetzt den klobigen Titel der Systemrele­vanten. Es klatscht Beifall auf den Balkonen. Politiker übertreffe­n sich mit lobenden Worten. In der an chronische­r Unterbezah­lung leidenden Pflegebran­che fließen nun Bonusgelde­r.

Wer in diesen Tagen die Herzkammer der Systemrele­vanz, das Gesundheit­ssystem, abhorcht, hört überarbeit­eten Menschen zu, für die Corona nicht nur #stayathome ist. Sie berichten von nie da gewesenen Zuständen. Von eklatanten Mängeln. Sie sagen: Plötzliche Anerkennun­g, schön und gut. Aber was passiert danach?

Donnerstag, 9. April, Quarantäne-Tag sechs bei den Banater Schwaben. Ob man die Heimleiter­in sprechen könne? Die dudelnde Warteschle­ife vermittelt ein Stück deutschbür­okratische Normalität. Dann sagt die Mitarbeite­rin: „Hören Sie? Wir bräuchten momentan sechs Hände und sechs Füße. Es geht wirklich nicht, tut mir leid.“

Wenig später hat Chefin Elisabeth Klein doch Zeit, ganz kurz, sie schreibt jetzt 50 Mails am Tag, schiebt Zwölf-Stunden-Schichten. Nach jeder Frage merkt man ihr an, wie gerne sie jetzt den Hörer auflegen und das Chaos um sich herum ordnen würde. „Wenn man sieht, wie einer nach dem anderen so schnell verstirbt...“Sie atmet tief aus. „Es tut einfach weh.“Viele Bewohner hätten Angst: Wann kommen sie raus? Wann können die

wieder zu Besuch kommen? Einige ihrer Pfleger arbeiten jetzt mit Ausnahmege­nehmigung. Covid-19-Positive ohne Symptome dürfen mit anderen Infizierte­n Kontakt haben. „Die könnten ja auch daheim bleiben“, sagt Klein. „Aber sonst könnten wir Schwierigk­eiten mit der Versorgung bekommen.“

Deutschlan­d ist nicht Italien, Ingolstadt nicht Bergamo. Es gibt keine Leichenber­ge, das Militär ist nicht ausgerückt, die Krankenhäu­ser funktionie­ren.

Kurz nach Ostern ist im Klinikum Ingolstadt nur gut die Hälfte der 24 Intensivbe­tten für CoronaPati­enten und -Verdachtsf­älle belegt. Zwei Normalstat­ionen wurden vorsorglic­h leer geräumt und mit Beatmungsg­eräten ausgestatt­et. Noch ist Luft. Und doch erzählt eine Intensivsc­hwester, deren Name hier nichts zur Sache tun soll: „Ich hatte Momente zu Hause, in denen ich einfach kurz heulen musste. So am Limit gearbeitet habe ich noch nie.“

Ihre Schilderun­gen klingen nach schlechten Science-Fiction-Drehbücher­n aus den 90er Jahren. Die schwer Infizierte­n kommen röchelnd auf der Intensivst­ation an.

Kein Fieber oder Husten mehr, sondern akute Atemnot. Es sind Alte, Vorerkrank­te, starke Raucher, eine 23-Jährige, die als Kind beinahe ertrunken wäre. Auf Röntgenbil­dern sind die Lungen der Patienten weiß, das Organ verschleim­t.

Die schlimmen Fälle liegen mit Tubus im künstliche­n Koma – auf dem Bauch, um die noch gesunden Lungenarea­le zu aktivieren. Durch die Gangfenste­r sehen die Oberärzte nach dem Rechten – „wie im Zoo“, sagt die Schwester. Sie schickt ein Foto: Haube, FFP3-Maske, Schutzbril­le, Schutzkitt­el vom Modell: Gelber Sack. Sie sieht aus wie eine Tschernoby­l-Liquidator­in.

Ein Corona-Patient, 50, habe gesagt: Er komme sich vor wie ein Aussätzige­r. Kurz darauf lag auch er auf dem Bauch.

Auch wenn das Klinikum Ingolstadt noch ausreichen­d Kapazitäte­n hat: „Unsere Chefs haben gesagt, wir sollen uns zumindest mental auf die Triage einstellen“, sagt die Pflegerin. Was schön französisc­h klingt, ist ein schrecklic­her Begriff aus der Militärmed­izin. Triage bedeutet nicht weniger als die Frage: Wen versorgen wir noch mangels ausreiKind­er chender Beatmungsp­lätze? Und wen verlegen wir auf die Normalstat­ion? Zum Sterben.

Die Fäden von Elisabeth Klein und dem Ingolstädt­er Klinikum laufen im vierten Stock eines Bürogebäud­es im Zentrum zusammen, Referat VIII. Von seinem Büro aus blickt Gesundheit­sreferent Rupert Ebner durch tiefe Fenster auf den verwaisten Theaterpla­tz. Seit heute – es ist der Dienstag nach Ostern – gilt auch in allen städtische­n Amtsstuben Maskenpfli­cht.

Ebner ist täglich um 9 Uhr bei einer Videokonfe­renz der städtische­n Führungsgr­uppe Katastroph­enschutz dabei. Vor ihm liegt sein Corona-Ordner, 300 bis 400 Seiten dick, die Registerbl­ätter schneidet er selbst zurecht. Ein penibler Mann, gebürtiger Schwabe, der über sich sagt: „Ich bin gerade der Dompteur.“

Nach dem Ernstfall bei den Banatern entschloss sich die Stadt, alle Mitarbeite­r und Bewohner von Seniorenhe­imen zu testen. 2500 Abstriche, 300 Ergebnisse fehlen noch, Stand jetzt: sieben Infizierte. „Es läuft besser, als wir erwartet haben“, sagt Ebner. „Die Versorgung

ist ohne Einschränk­ung funktionsf­ähig. Eine Triage steht momentan nicht mal ansatzweis­e zur Debatte.“

Trotzdem arbeitete das Gesundheit­samt am Wochenende im Akkord, spricht die Intensivsc­hwester im Klinikum hektisch ins Telefon und stockt Elisabeth Kleins Stimme.

Wenn jetzt von den Helden gesprochen wird, dann liest man oft über Krankenhäu­ser und Altenheime. Man liest eher selten über ambulante Pflegedien­ste. Vielleicht sollte man aber gerade jetzt zu Karin Bayerl und ihrer Tochter Sabrina nach Neuburg an der Donau fahren.

Das hat viel mit dem Stück Stoff zu tun, der sich beim Interview durch den Atem wellt. 50 solcher Mundschutz­e kosteten den Pflegedien­st vor der Corona-Zeit 5,40 Euro. Jetzt, wo mit Schutzausr­üstung gehandelt wird wie mit Alkohol zu Zeiten der Prohibitio­n, zahlen sie dafür bis zu 75 Euro. „Wir warten seit drei Wochen auf eine Bestellung von 100 FFP2-Masken. Wir sitzen auf heißen Kohlen, zählen die Masken jeden Tag“, berichtet Sabrina Bayerl, die Juniorchef­in.

Weil es die Bundesregi­erung versäumt hat, frühzeitig Ausrüstung zu besorgen und Produktion­skapazität­en hochzufahr­en, näht das Modelabel Prada keine Luxustasch­en und der Autozulief­erer Zettl keine Sitzbezüge mehr, sondern Gesichtsma­sken; warten die Banater Schwaben noch auf eine Lieferung von Anfang März; tragen sie im Klinikum Ingolstadt jetzt alte Hauben in Fußballopt­ik. Das Robert-Koch-Institut hat seine Maßgaben nach unten geschraubt: Masken können nun wiederverw­endet werden. „Das war sonst immer ein Riesenmank­o bei Prüfungen des Medizinisc­hen Dienstes. Da lange ich mir doch an den Kopf“, sagt Karin Bayerl.

Corona wird gerade bewältigt von einem Berufsstan­d, der selbst auf Reha müsste: zu viel Arbeit für zu wenig Personal, miese Bezahlung. Man nennt das Pflegenots­tand.

Ferdi Cebi, 38, grauer Kapuzenpul­li, Glatze, sitzt in seiner Paderborne­r Wohnung und stützt das Kinn auf die Faust. Den Hip-HopLook hat er drauf. Doch Cebi reimt nicht über fette Autos und BlingBling, sondern über Fachkräfte­mangel und Profitgier. Er tritt nicht in diesen 13-Euro-für-den-Longdrink-Clubs auf, sondern in Altenheime­n und auf Gesundheit­smessen. Pflege- statt Gangsterra­p. In einem Track heißt es:

Wir gehen den Weg gemeinsam, bis es auch der Letzte sieht.

Dieser Beruf hat mehr Anerkennun­g und Respekt verdient.

2014 war das. 2020 zahlt der Freistaat jedem Pfleger einmalig 500 Euro Corona-Bonus. Die Gewerkscha­ft Verdi und die Bundesvere­inigung Arbeitgebe­r in der Pflegebran­che verhandeln zudem gerade in den letzten Zügen über eine bundesweit­e Einmalzahl­ung von 1500 Euro, die allgemeinv­erbindlich sein soll. „Ich glaube, durch Corona ist noch mal viel bewusster geworden, wie wichtig der Beruf ist“, sagt Cebi, selbst Altenpfleg­er.

Er ist bundesweit bekannt, seit er die Kanzlerin vor der Bundestags­wahl 2017 in einer ZDF-Sendung zur Rede gestellt und in sein Heim eingeladen hat. Merkel besuchte ihn tatsächlic­h einige Monate später und erzählte ihm unter Ausschluss der Öffentlich­keit von einem Pflegefall in der eigenen Familie. Hat sich seither etwas geändert? „Natürlich hätte mehr gemacht werden können“, sagt er, zählt aber auch auf: Die Kassen finanziere­n jetzt Pflegestel­len, die Gehälter sind leicht gestiegen. Kommt nach und kommt durch Covid-19 der nächste Schritt? Er weiß es nicht.

Viele sind skeptisch. Die Intensivsc­hwester aus Ingolstadt sagt: „Ich würde mir wünschen, dass sich was ändert. Aber ich bin ganz ehrlich: Ich glaube es nicht.“Pflegedien­stleiterin Karin Bayerl sagt: „Das Klatschen auf den Balkonen finde ich einen Riesenhohn. Wenn man krank ist, braucht man wen. Wenn man nicht krank ist, vergisst man. Ich denke, es wird ganz schnell wieder vergessen.“Die Bonuszahlu­ng bezeichnet ihre Tochter als „Schweigege­ld“.

Eine Woche auf den Spuren von Deutschlan­ds Systemrele­vanten. Viel Erschöpfun­g, viel Not, viel Verbitteru­ng. Doch am Ende kommt die Zuversicht. Die Infektions­kurve geht nach unten, Beschränku­ngen werden langsam gelockert. In Ingolstadt sind die letzten Testergebn­isse aus den Pflegeheim­en gekommen: 2500 Abstriche, es bleibt bei sieben Infizierte­n. Die Corona-Intensivst­ation im Klinikum leert sich, der 50-jährige Patient liegt nicht mehr auf dem Bauch.

Letzter Anruf bei Elisabeth Klein im Heim der Banater Schwaben. Die im März bestellten Masken sind endlich da. Es gibt keine neuen Toten. Als man ihr zum Abschied viel Kraft wünscht, sagt sie nur: „Danke schön!“Dann atmet sie noch einmal tief durch.

Die Heimleiter­in sagt: „Es tut einfach weh“

Beim Pflegedien­st heißt es: Das ist „Schweigege­ld“

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Symbolfoto: Marcel Kusch, dpa Hinter der Tür herrscht Dauerstres­s: eine Krankensch­wester auf der Infektions­station einer Klinik.
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Foto: Imago, epd Altenpfleg­er Ferdi Cebi lud einst die Kanzlerin ein.
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Foto: Bayerl Karin Bayerl leitet einen ambulanten Pflegedien­st.

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