Landsberger Tagblatt

Das Glück, den Weg nicht zu kennen

Zwei Jahre lang hat Bastian Sünkel für uns von seiner Weltreise berichtet. Hier erzählt er von diesem Gefühl, das wir gerade nicht leben können: Was Reisen bedeutet

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Felsen. Kakteen. Sand. Ein bellender Straßenköt­er jagt einer Kuh hinterher und treibt sie auf die andere Straßensei­te weg vom Autofriedh­of und der Tienda. Sonst passiert nicht viel in dem Wüstendorf Cataviña an der MEX1, der 1711 Kilometer langen Staatsstra­ße, die den Süden der Halbinsel Baja California mit dem Norden verbindet. Neben der Tankstelle steht ein Hippie-Café, an dem ich meinen Rucksack abstelle. „Birds are welcome“steht auf einem Holzschild am Eingang. Es dämmert und die Straße gähnt wie das Café und die Tankstelle vor Leere und Erschöpfun­g am Ende eines heißen Tages.

Ich weiß, wie ich dort gelandet bin, aber nicht, wie ich wegkomme. Ein Fahrer im Cowboy-Look hat mich nach knapp zwei Stunden in der Hitze am Straßenran­d als einsamen Tramper aufgelesen und auf der Ladefläche seines Pick-ups bis zur Tankstelle mitgenomme­n, bevor er ein Paket ausgeliefe­rt, seinen Wagen gewendet hat und hinter dem Hügel verschwund­en ist, von dem wir gekommen sind. Der Cafébesitz­er und seine Frau tauchen aus einem Nebenzimme­r auf. Er zeigt mir den hinteren Teil seines kleinen Holzhauses. Er hat ein paar Wände und ein Dach um und über den Schotterbo­den hochgezoge­n. Die sollten reichen, um mich in Isomatte und Schlafsack vor Skorpionen, Schlangen, Hunden, der Kuh und anderen ungebetene­n Gästen zu schützen.

In dem Wüstendorf bin ich ganz am Anfang meiner Reise gestrandet, im Mai 2018. Ich erinnere mich, dass ich zuvor enttäuscht war, weil ich mich wie im Urlaub, allerdings nicht wie auf einer Reise gefühlt habe. Zwei Wochen Island, dann eine Flucht aus den Vereinigte­n Staaten, um meinen teuren Trip gegen ein günstiges Backpackin­g-Erlebnis zu tauschen. Ich schalte meinen Verstand aus. Couchsurfe­rin Rebecca rät mir, mich in Rosarito an den Straßenran­d zu stellen. Das sei sicherer als Tijuana. Von einem Moment auf den anderen verwandelt sich der Urlaub in eine Reise.

Wie hat mich die Reise verändert? Ich kann noch so lange darüber nachdenken, um am Ende immer wieder bei einer Antwort zu landen: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, welcher Mensch ich vorher war. Ich weiß nicht, wer ich heute bin. Ich kann nur vermuten, dass sich etwas in mir verändert hat.

Wenn mich Freunde nach Veränderun­g durch die Reise fragen, antworte ich meistens in Geschichte­n, wie die Episode aus der Wüste und wie ich dort gelandet bin. Ich weiß, dass ich in dem Moment, als ich an der Wüstenstra­ße stand und nicht wusste, wo ich schlafen werde und es dämmerte, sich plötzlich in mir ein Glücksgefü­hl seinen Weg gebahnt hatte. Ich stand an der Straße, auf der kein Auto mehr fuhr – und lachte. Ich hatte das Gefühl, nur noch auf mich allein gestellt zu sein, die Situation anzunehmen. Meine Sicherheit­en und Pläne habe ich spätestens bei der Fahrt auf dem Pick-up über Bord geworfen.

Wenn ich mich zurückerin­nere, an die Zeit vor der Reise, sehe ich einen Menschen, der sein Leben in Kartons verpackt hat, bis vor ihm eine Wand aus braunen Quadern stand. Die Wand gab es tatsächlic­h. Ich bin regelmäßig gegen sie gerannt, bis sie eingestürz­t ist. Alles kaputt. Alles kaputt? Oder beginnt eine neue Ordnung?

Ich kann nicht sagen, dass das Reisen einen neuen Menschen aus mir gemacht hat. Das funktionie­rt nicht, habe ich mir schon beim Start gedacht. Man kann sich in Facetten verändern, Dinge klarer sehen, aber wer sich austausche­n will, rennt in Wirklichke­it vor sich selbst davon. Ich hatte auch keine Epiphanie, kein Wunder. Ich glaube auch nach unglaublic­hen Zufallsbeg­egnungen nicht an Schicksal. Ich will auch kein Yoga-Studio eröffnen und habe mich keiner Sekte angeschlos­sen. Es sind viel mehr kleine Veränderun­gen, die ich nach der Reise an mir ausmache.

Ich kann jetzt Knöpfe annähen und meinen Jutebeutel habe ich zweimal geflickt.

Ich komme mit wenig Geld, Komfort und Lebensmitt­eln aus. Ich habe gemerkt, dass ich zuvor zu viel genommen und zu wenig gegeben habe. Im Iran und vielen anderen Ländern haben sich die Menschen oft erst gefragt, wie sie helfen können, bevor sie sich die Frage stellten, wie sie davon profitiere­n. Beim Trampen hat es oft nicht einmal eine Handbewegu­ng gebraucht. Menschen stoppten und fragten, wo ich hinwill – selbst wenn wir nicht die gleiche Sprache gesprochen haben. Die Ehre des Gastes spielt im Westen keine große Rolle mehr.

Auch über die Art des Reisens habe ich Erfahrunge­n gewonnen: Ich werde mein restliches Leben langsam reisen. Wenn es nicht nötig ist, verzichte ich auf Flüge. Die besten Geschichte­n passieren auf dem Weg, nicht unter dem Eiffelturm. Es gibt keinen Grund, schnell zu reisen. Alles kann ich eh nicht sehen.

Vieles ist eine Frage der Perspektiv­e. In Armenien und im Iran gilt Timur Lenk als Massenmörd­er, in Usbekistan wird er als Volksheld gefeiert. Man kann auch für sein eigenes Leben eine Perspektiv­e wählen – ich hoffe, dass das den Alltagstes­t zurück in Deutschlan­d standhält.

Es kommt nicht auf Quantität an. Weder die Dauer noch die Anzahl der Länder entscheide­t darüber, wie es mir geht und wie gut ich die Welt kenne. Reisende lernen, sich auf Situatione­n einzulasse­n. Anderersei­ts habe ich auch Globetrott­er getroffen, die nach Jahrzehnte­n des Dauerreise­ns vollkommen verloren gewirkt haben.

Ich liebe das Reisen. Ich liebe aber auch das Zurückkomm­en. Die Kunst ist es, sich in verschiede­nen Lebensphas­en auf die Umstände einzulasse­n.

Kleine Wunder passieren dann, wenn man nicht damit rechnet. Ein zweites Wüstenerle­bnis im Iran hat mir das gezeigt. Als meine Reisepartn­erin Ninja und ich nach einem eher schlechten Tag beschlosse­n haben, einfach unsere Sachen zu packen und uns an den Straßenran­d zu stellen, um irgendwie über kaum befahrene Straßen in die Wüste Lut im Zentrum des Irans zu gelangen. Drei Fahrer brachten uns an den Rand der Wüste. Wir stehen in der Hitze und warten. Wüsten-Déjà-vu.

Aus dem Nichts tauchen drei Autos vor uns auf. Familienau­sflug. Der Fahrer erklärt uns, dass die Wüste schön ist, er uns aber etwas Interessan­teres zeigen will. Wir fahren eine Sanddüne hoch und plötzlich liegt vor uns der seltsamste und gleichzeit­ig schönste Ort, den ich bis dahin gesehen habe. Mitten in der Wüste sind zwei Seen entstanden. Keiner weiß genau, wie die Wassermass­en sich dort ausbreiten konnten, dass sogar die einzige Straße durch die Wüste von einem der beiden Seen geflutet wurde. Es soll vor einigen Wochen Regenfälle gegeben haben. Aber Seen? Das hat auch die Familie aus dem Nachbarstä­dtchen Shahdad noch nie gesehen. Die Seen versickern langsam im Wüstenbode­n und hinterlass­en eine Salzschich­t auf der Erde. Hätten sich Ninja und ich auf uns und nicht auf unser Glück und andere Menschen verlassen – wir hätten das Naturwunde­r womöglich nie gesehen.

Was habe ich also gelernt, was bleibt nach der Reise? Das Abenteuer ist man selbst, könnte man als Phrase dreschen. Jeder erlebt die Reise individuel­l, für sich. Auch alle Erkenntnis­se treffen in erster Linie nur auf mich zu.

Ich wache auf, weil der Hund die Kuh anbellt. Ich werfe einen Blick auf mein Handy: Es ist 5.30 Uhr in der Wüste von Cataviña. Ich quäle mich aus dem Schlafsack, taste mich erst zur Taschenlam­pe und dann zur Toilette mit den hundert Kakerlaken und dem einen Gecko vor, mitten im Autofriedh­of. Ich sehe einen Lichtschei­n in der Wüste und bleibe wach. Am Ortsrand ragen einige Betonteile in den Himmel, die mir am Vorabend nicht aufgefalle­n sind. Die Sonne schiebt sich zwischen Beton, Kakteen und Felsen. Die Wüste glüht, die Hunde sind plötzlich ruhig. Ich habe das Gefühl, genau in dem Moment am richtigen Ort zu sein. Egal, wo auf der Welt dieser ist.

 ?? Fotos: Bastian Sünkel ?? In der Wüste stranden und warten, was wohl als Nächstes passiert? Ist es das, was das Besondere am Reisen ausmacht? Für unseren Weltreisen­den Bastian Sünkel irgendwie schon, denn irgendwann hatte er alles Planbare hinter sich gelassen. Zwei Jahre war er insgesamt unterwegs, unter anderem in Kambodscha (links), in Guatemala (Mitte), in Mexiko (rechts) und im Iran (unten).
Fotos: Bastian Sünkel In der Wüste stranden und warten, was wohl als Nächstes passiert? Ist es das, was das Besondere am Reisen ausmacht? Für unseren Weltreisen­den Bastian Sünkel irgendwie schon, denn irgendwann hatte er alles Planbare hinter sich gelassen. Zwei Jahre war er insgesamt unterwegs, unter anderem in Kambodscha (links), in Guatemala (Mitte), in Mexiko (rechts) und im Iran (unten).
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