Nach dem Krieg war vor der Diktatur
Im Nachbarland ist der 8. Mai kein Tag der Freude und der Freiheit
Warschau Eine rauschende Siegesparade werden die wenigsten Menschen in Polen an diesem 8. Mai vermissen. Schon vor Beginn der Corona-Pandemie waren keine größeren Feiern zum 75. Jahrestag des Kriegsendes geplant. Das hat mit der zwiespältigen nationalen Erinnerung an das Frühjahr 1945 zu tun. Denn für Polen bedeutete das Ende der deutschen Besatzung, des Nazi-Terrors und der NS-Vernichtungspolitik mit sechs Millionen eigenen Todesopfern zugleich den Anfang einer neuen Fremdherrschaft: der sowjetischen, die bis 1989 andauerte.
Vor fünf Jahren, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, formulierte es der damalige polnische Präsident Bronislaw Komorowski mit Blick auf das östliche Europa so: „Wir feiern diesen Tag, weil 1945 ein furchtbarer Krieg zu Ende ging. Das brachte unserer Region aber keine Freiheit, denn die Länder in diesem Teil Europas wurden gegen ihren Willen dem Sowjetimperium untergeordnet.“Tatsächlich durfte die polnische Exilregierung schon 1945 auf Druck von Sowjetdiktator Josef Stalin nicht an der Siegesparade der Alliierten in London teilnehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Stalin mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt und dem britischen Premier Winston Churchill in Jalta bereits auf eine Aufteilung Europas in Einflusszonen geeinigt. Das nach Westen verschobene Polen fiel der sowjetischen Sphäre zu. Die kommunistische Volksrepublik entstand.
Nach Ansicht des heutigen polnischen Präsidenten Andrzej Duda sind ähnliche Szenarien auch 75 Jahre später nicht auszuschließen. Am Unabhängigkeitstag im vergangenen November erklärte er unter Hinweis auf die russische Rolle in den Kriegen in der Ukraine und Syrien: „Moskau zeigt heute wieder sein imperiales Antlitz, und wir wollen nicht noch einmal in die russische Einflusssphäre geraten.“Auf eine größere Rede an diesem 8. Mai verzichtet er.
Ulrich Krökel