Merkels Rückfallgefahr
In der Corona-Pandemie hat die Kanzlerin fast widerwillig den Ländern das Handeln überlassen. Doch damit steht auch ihr Nimbus als besonnene Krisenmanagerin auf dem Spiel, wie im Bundestag deutlich wird
Berlin Auf den ersten Blick scheint es, als wolle Angela Merkel sich verstecken. Ihr Jackett ist von einem ganz ähnlichen Blau wie das der Sitzpolster in ihrem Rücken, wirkt dadurch wie Tarnkleidung. Doch der Eindruck trügt: Die Bundeskanzlerin, die sich am Mittwoch zum ersten Mal in der Corona-Pandemie der Regierungsbefragung durch den Bundestag stellt, gibt sich offensiv. Selbstbewusst verteidigt die CDU-Politikerin den Kurs ihrer Bundesregierung in den vergangenen Wochen, an dem die Zweifel immer lauter werden.
Kühl lässt sie etwa den AfD-Mitvorsitzenden Tino Chrupalla abblitzen, der ihr vorhält, die Corona-Politik vernichte zwei Millionen Existenzen: Durch die Maßnahmen der Bundesregierung würden die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für eine Vielzahl von Bürgern abgemildert. Mit einer Bemerkung sorgt die Kanzlerin sogar für Lacher: Als sie sich selbst einen aufmerksamen „Zeit-Menschen“nennt, um, wie sie erklärt, das bei Sozialdemokraten und Sozialisten gebräuchliche Wort „Genosse“zu vermeiden.
Merkels Grundton ist dagegen ernst und entschlossen. Im Kampf gegen die Corona-Gefahr sei gemeinsam viel erreicht, eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden worden, beteuert sie. Doch die jetzt eingeleiteten Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen, darauf weist die Kanzlerin mehrfach hin, bedeuteten keineswegs, dass etwa Mindestabstand oder Hygieneregeln überflüssig seien.
Es ist kein Geheimnis, dass Merkel, die kühl rechnende Physikerin, manche der jetzt in den Bundesländern eingeleiteten Lockerungen skeptisch sieht. Genau verfolgt das Kanzleramt zudem, wie überall im Land die Proteste gegen die Infektionsschutzmaßnahmen zunehmen. Das weckt Erinnerungen an die Zeit der Flüchtlingskrise. Und lange schien es, als würde Merkel als „Flüchtlingskanzlerin“in die Geschichtsbücher eingehen. Doch viel wichtiger für die Bilanz ihrer Politkarriere dürfte es werden, wie sie die Corona-Pandemie meistert. Merkel muss Angst haben, ihren Nimbus als besonnene Krisenmanagerin wieder zu verlieren. Und zurück ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten – so wie in der ersten Zeit nach dem Nachweis des Corona-Virus in Deutschland. Die 65-Jährige erwischte alles andere als den perfekten Start bei der Bewältigung der tödlichen Gefahr.
Bis zu einer ersten öffentlichen Ansage dauert es, typisch für Merkel, eine ganze Weile. Dann aber ergreift sie das Heft des Handelns, schwört am 18. März, in ihrer ersten außerplanmäßigen Fernsehansprache überhaupt, das Land darauf ein,
Johnson, die den Ernst der Lage verkannt hätten.
Doch dann, vor einer Woche bei der Videokonferenz mit den Länderchefs, ändert sich das Bild. Merkel beugt sich dem Druck der Ministerpräsidenten und überlässt ihnen zähneknirschend die Hoheit beim weiteren Kampf gegen die Pandemie. Die Kanzlerin sei frustriert, heißt es, es wird gar spekuliert, sie könne „hinschmeißen“.
Davon ist im Bundestag nicht das Geringste zu spüren. Merkel wirkt aufgeräumt und entschlossen. Zwischen den Zeilen lässt sie anklingen: Wenn jetzt irgendwo neue CoronaNester entstehen, müssen auch diejenigen dafür politisch geradestehen, die diese Lockerungen wollten. „Wenn wir konsequent bleiben und so einen Rückfall vermeiden, haben wir alle mehr davon“, sagt sie. Einen Rückfall vermeiden – das ist Merkels großes Ziel. Denn sie weiß: Auch wenn sie vor Lockerungen gewarnt hat – eine zweite CoronaWelle würde auch für ihr Ansehen einen Rückfall bedeuten. Deshalb mahnt Merkel, dass Corona noch lange eine ernste Gefahr bleibe, weil weder Medikament noch Impfstoff gefunden sei. „Lassen Sie uns mutig und wachsam sein“, appelliert sie an Parlament und Bevölkerung.