Den Kirchgang ließen wir uns nicht nehmen
Roman Schmid, Weißenhorn
Es ist damals kein einziger Schuss gefallen, aber einige Deutsche wurden gefangen genommen. Mit einer schier endlos anmutenden amerikanischen Fahrzeugkolonne, rund zwei Stunden Fahrzeug an Fahrzeug, durchs Dorf – damit war für uns Biberachzeller der Krieg zu Ende. Alle Leute waren auf die Straße gelaufen, standen Spalier und winkten mit weißen Taschentüchern.
Mein Vater hatte unseren Bunker getarnt, dass man den Beton von außen nicht mehr sah. Die Amis hätten ihn sonst wohl zusammengeschossen. Im Bunker verwahrten wir Pickel, Wasser und genügend Lebensmittel. Wir waren seit einigen Tagen in dem Erdkeller drin und haben dort auch geschlafen. Eine Nazifamilie aus der Nachbarschaft kam damals auch zu uns, und die Frau hat dann niedergeschlagen zugegeben: „Das hätte ich nie geglaubt, dass der Führer uns so im Stich lässt. Man hat immer von der Wunderwaffe – der Atombombe – geredet …!“
Verlassene deutsche Geschütze standen in jenen Tagen östlich des Ortes am Fuchsberg und im Süden am Schlossberg bei Asch. Um die Geschütze herum lagen damals Munition und Gewehre. Die Gewehre wurden von den deutschen
Soldaten meist kaputt gemacht, indem sie die Gewehrkolben abschlugen. Den übrig gebliebenen Granaten schraubten sie zudem in letzter Minute die Zünder raus, um die Munition zu entschärfen. In Unterreichenbach ist auch ein deutsches Geschütz stehen geblieben. Da sind wir Buben über den riesengroßen Haufen Munition raufgeklettert und haben an dem Kriegsgerät rumgedreht. Daheim durfte man das natürlich nicht wissen, sonst hätte es Ärger gegeben.
Nach vielleicht acht Tagen kam ein junger Leutnant zurück. Er hielt sich bisher wohl in den Wäldern versteckt und bat nun um ein Zivilgewand. Da geriet er ausgerechnet ins Haus vom Hans Glatzmaier. Dessen Taufpaten wollte er ja bei einem Standgericht erschießen. Glatzmaier ging auf ihn zu und sagte: „Hau bloß ab, du Lausbub, sonst erschieß ich dich heute noch!“Zwei Häuser weiter bekam er dann Zivilgewand. Im Wennender Holz fand man ihn später, er hat sich aufgehängt – er sah wohl einfach keinen Ausweg mehr.
Ein Nazi aus Biberachzell war während des Krieges beim Oberberghof im Berchtesgadener Land als Leibwächter angestellt. Er hatte damals ein Auto, ein Motorrad und besaß allerhand Waffen. Seine ganze Familie war von den Nazis überzeugt. Beim Umsturz vergrub der Mann seine Waffen dann eiligst in seinem Garten, nur ein paar Kleinkaliber-Handfeuerwaffen wurden von ihm zum Schein an die Amerikaner abgeliefert.
Die Amerikaner machten nach dem Einmarsch Hausdurchsuchungen in allen Anwesen. Uhren und andere Dinge haben sich die Amis einfach genommen. Die Schwarzen fürchteten wir besonders. Man hatte sie bis dahin halt nicht gekannt. Mädchen bekamen von den amerikanischen Soldaten Kaugummis und Kekse.
Von abends bis morgens galt nun die Ausgangssperre im ganzen Ort. Den abendlichen Kirchgang haben sich die Biberachzeller aber nicht nehmen lassen und sind einfach trotzdem zur Messe gegangen – auch der Bürgermeister Hermann Graf. Dies duldeten die Amerikaner dann aber doch überhaupt nicht. Sie verlangten: „Wenn der Bürgermeister noch mal bei der Kontrolle nicht zu Hause ist und sich wieder in der Kirche befindet, wird er verhaftet.“
Nachdem Norbert Butzmann von der amerikanischen Militärregierung als Bürgermeister eingesetzt worden war, wollte er es ganz gewissenhaft gegenüber der Militärregierung machen. In einem Fall war dies besonders hart. Der Bauer
Simon machte halt auch Schwarzhandel – man konnte damals schließlich nichts kaufen, sondern nur tauschen – und der Bürgermeister zeigte ihn an. Folglich wurde Simon zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Damit fehlte der Familie der Versorger. Um die Not zu lindern, halfen die Leute im Unterdorf seiner Frau in der Landwirtschaft. Sie wäre sonst mit ihren drei Kindern in Not geraten.
Ein Jahr nach Kriegsende hatte Bürgermeister Norbert Butzmann eine schwere Aufgabe zu bewältigen. Immer wenn ein Lkw oder Bus voller Vertriebener aus dem Osten kam, musste er für sie bis zum Abend in den Häusern eine Unterkunft organisieren. Beim Dorfkreuz hat man diese Leute abgeladen. Ich sehe heute noch die Menschen, wie sie auf ihren wenigen mitgebrachten Habseligkeiten saßen und geduldig auf die Quartierzuweisungen warteten.
Pfarrer Max Stehle organisierte dann, als es nach dem Kriegsende im Dorf ruhiger wurde, eine Fußwallfahrt zur Wannenkapelle bei Meßhofen zum Dank für den guten Ausgang der Schreckenszeit. Alle Bewohner des Dorfes beteiligten sich an der Wallfahrt. Aus der großen, mehrere Meter langen Hitlerfahne hat man schließlich Kleider genäht und den Stoff eingefärbt.