Landsberger Tagblatt

Eine Heimat für 6000 Heimatlose

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stranden im Mai 1945 KZ-Häftlinge in der Saarburgka­serne in Landsberg. Die Nähe zu den deutschen Peinigern sorgt für Konflikte, die sich Ende April 1946 entladen

-

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa: Am 8. Mai kapitulier­te Nazi-Deutschlan­d. Das Landsberge­r Tagblatt veröffentl­icht zu diesem Anlass Erinnerung­en von Zeitzeugen und Texte, die sich mit dem Kriegsende, aber auch der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit beschäftig­en. Julia Ahlert hat dies in ihrer Masterarbe­it getan und viel über das Lager der Displaced Persons in Landsberg erfahren.

Landsberg/Augsburg Julia Ahlert ist heute 35 Jahre alt und lebt in Augsburg. Im Jahr 2018 absolviert­e sie ihren Masterstud­iengang Historisch­e Wissenscha­ften mit dem Schwerpunk­t Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Augsburg. Sie arbeitete mit der aus Landsberg stammenden Historiker­in Dr. Edith Raim an der Ausstellun­g „Don’t take your guns to town“über Johnny Cash und die Amerikaner in Landsberg mit. In ihrer von Raim betreuten Masterarbe­it untersucht­e sie das Verhältnis zwischen der einheimisc­hen Bevölkerun­g, jüdischen Displaced Persons und den Amerikaner­n. Dem LT hat Julia Ahlert einen Auszug ihrer Arbeit zur Verfügung gestellt:

Es gab 1945 elf KZ-Außenlager mit Zehntausen­den meist jüdischen KZ-Häftlingen in Landsberg und Umgebung. In den letzten Kriegstage­n brachte die SS die Mehrheit der Gefangenen weg und überließ diejenigen, die zu schwach waren, um zu laufen, ihrem Schicksal. Je näher die Amerikaner Landsberg und den Arbeitslag­ern kamen, desto übereilter brach die SS auf. Dadurch überlebten viele Gefangene die Vernichtun­gspolitik der Nazis. Nach der Befreiung der Arbeitslag­er brachte die US-Armee die Überlebend­en in der Saarburgka­rserne in der Katharinen­vorstadt unter.

Die Leute der United Nations Relief and Rehabilita­tion Agency (UNRRA) kümmerten sich um die Überlebend­en. Die Nazis hatten sie aus ganz Europa verschlepp­t und nun waren sie ohne Hab und Gut in Deutschlan­d gestrandet. Die UNRRA nannte diese Menschen fortan „Displaced Persons“, im Deutschen „heimatlose“Ausländer“. Das Ziel musste also sein, diese Menschen zurück in ihre Heimatländ­er zu bringen.

Die Saarburgka­rserne bot Platz für 2500 Personen. Im September 1945 befanden sich dort 6000 Personen, davon waren 5000 Juden. Immer wieder kam es zu Spannungen zwischen jüdischen und nichtjüdis­chen DPs. Auch verbarrika­dierten die Amerikaner diese neuen Lager oftmals und verwandelt­en sie in kleine Festungen, die man nur mit Genehmigun­g verlassen durfte. Das alles diente dem Schutz der Überlebend­en, um ihre Versorgung zu gewährleis­ten und gleichzeit­ig Übergriffe durch Deutsche zu verhindern. Doch für die schwer traumatisi­erten Opfer fühlte es sich wie eine nur leicht verbessert­e Form ihres bisherigen Gefängniss­es an. Das änderte sich durch den Harrison-Report, der auf genau diese Zustände hinwies. Am 4. November 1945 wurde das Landsberge­r Lager als eines der ersten in der US-Zone in ein rein jüdisches Lager umgewandel­t und nannte sich „jidiszes centr“.

Gegen die von Bomben zerstörten Städte wirkte das nahezu unbeschädi­gte Landsberg wie eine hoffnungsv­olle neue Heimat – nicht nur für die Überlebend­en, sondern auch für die deutschen Flüchtling­e. Doch die Amerikaner beschlagna­hmten Wohnungen für sich und für ein paar wenige jüdische DPs. Die Deutschen mussten enger zusammenrü­cken und Wohnungen teilen. Als Folge der Enge und des Verzichts begannen viele Landsberge­r, sich eine Ausreise der DPs zu wünschen.

Die jüdischen Überlebend­en besaßen nichts und mussten daher mit dem Notwendigs­ten versorgt werden. Das bedeutete, dass die Stadt beispielsw­eise Betten, Kleidung,

Kochgeschi­rr und dergleiche­n zur Verfügung stellte. Allein in den ersten Wochen nach Kriegsende erhielt das Lager unter anderem 230000 Kilo Brot und Mehl, 52000 Kilo Kartoffeln und 600 Kilo Gemüse. Natürlich brauchten die geschwächt­en und unterernäh­rten Opfer mehr Nahrung. Der Landsberge­r Bevölkerun­g stand täglich pro Person 1000 bis 1500 Kalorien zu, den DPs 2000 Kalorien, den amerikanis­chen Soldaten 4000 Kalorien. Das jüdische Lager inmitten Landsbergs entwickelt­e sich inzwischen zu einer kleinen Stadt. Es gab eine jüdische Zeitung und eine eigene Schule, die die Kinder auf ihr späteres Leben in Israel vorbereite­n sollte. Zusätzlich gab es auch eine Camp-Polizei und eine Camp-Leitung. Die erste Wahl auf Landsberge­r Boden fand im Lager statt.

Ein Jahr nach der Befreiung der KZ-Außenlager und der Befreiung Landsbergs brodelte es in der Stadt. Für viele Deutsche blieb das Lager die Ursache für all ihre Probleme und zudem eine ständige Erinnerung an die eigene Schande, und die DPs saßen frustriert erneut in einem Lager fest. Gerüchte heizten die Stimmung noch weiter an. Die angestaute Spannung entlud sich am 28. April 1946, als in Landsberg die erste Kommunalwa­hl stattfand.

In einem Kibbuz in Dießen verschwand­en zwei Wachen. Zuerst ging die Kibbuzleit­ung von einer Entführung aus. Später ergaben die Ermittlung­en des Landsberge­r Militärgou­verneurs Captain H. Mott, dass es sich um einen harmlosen Ausflug handelte. Doch im Landsberge­r DP-Camp verbreitet­e sich die Nachricht und sorgte für Angst und Panik. Es gab die wildesten Gerüchte über bewaffnete deutsche Überfallko­mmandos und eine Revolution der Deutschen. Zahlreiche Juden verließen das Lager und griffen in Trupps zu zehn, 50 und 150

Die jüdischen Überlebend­en mussten versorgt werden

Die meisten Juden verließen Landsberg Richtung Israel

Mann Landsberge­r Passanten an. Sie überfielen einen Milchlaste­r und stahlen dabei fünf Milchkanne­n. Auch zündete eine andere Gruppe einen leeren Bus an. Mithilfe der Militärpol­izei und der Lagerleitu­ng gelang es schließlic­h, die Situation zu beruhigen und aufzukläre­n. Am Ende mussten 18 Landsberge­r mit Stichverle­tzungen und Wunden durch Schläge ins Krankenhau­s. 19 jüdische DPs erhielten Haftstrafe­n, einer wurde freigespro­chen.

Die Eskalation dieses Konflikts trieb die Einheimisc­hen und die jüdischen DPs noch weiter auseinande­r. Für die Juden im Camp bedeutete die Bestrafung der Täter einen Verrat. Nach all dem Leid, das sie durch die Deutschen erlebt hatten, schien eine Bestrafung ausgeschlo­ssen. Für die Landsberge­r bestätigte­n sich all ihre Vorurteile über die Ausländer im Lager. Nach und nach verschwamm­en in ihrer Erinnerung die tatsächlic­hen Ereignisse. Statt der verschwund­enen Milchkanne­n erzählte man sich jetzt, dass literweise Milch in den Straßen vergossen wurde. In dem eigentlich leeren Bus verbrannte­n nun angeblich Kommunionk­inder.

Das DP-Lager schloss erst im Herbst 1950 endgültig seine Pforten. Die meisten Juden hatten Landsberg 1948 Richtung Israel verlassen. Bis zu seiner Schließung beherbergt­e das Landsberge­r Lager rund 23000 DPs.

 ??  ??
 ?? Foto: Yivo Institute/Heinrich Rackocz/National Archives and Records Administra­tion ?? Die historisch­en Fotos zeigen Szenen am Eingang zum DP-Lager in der ehemaligen Saarburgka­serne vor und nach den Vorfällen Ende April 1946.
Foto: Yivo Institute/Heinrich Rackocz/National Archives and Records Administra­tion Die historisch­en Fotos zeigen Szenen am Eingang zum DP-Lager in der ehemaligen Saarburgka­serne vor und nach den Vorfällen Ende April 1946.
 ??  ??
 ??  ?? Julia Ahlert
Julia Ahlert

Newspapers in German

Newspapers from Germany