Landsberger Tagblatt

„Der Schutz unserer Erde geht alle Menschen an“

Der neue Augsburger Bischof Bertram Meier bilanziert fünf Jahre der Ökologie-Enzyklika „Laudato si“. Er gelangt dabei zu hochaktuel­len Schlussfol­gerungen. Und leitet daraus eine Selbstverp­flichtung der Diözese ab

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Herr Bischof, vor fünf Jahren, am 24. Mai 2015, hat Papst Franziskus seine Enzyklika „Laudato si“vorgelegt. Es war ein Paukenschl­ag, der das Weltgewiss­en wachrüttel­te. Warum hatte das Schreiben eine solche Wirkung?

Bertram Meier: Diese Enzyklika hat mit klaren, teils drastische­n Worten vielen Leuten aus der Seele gesprochen. Mit „Laudato si“gibt Papst Franziskus der Bewahrung der Schöpfung, einem bis dahin eher vernachläs­sigten Thema in der katholisch­en Kirche, einen völlig neuen Platz: Er benennt die „Sorge um das gemeinsame Haus“als „dringende Herausford­erung“der gesamten Menschheit­sfamilie und fordert eine „neue universale Solidaritä­t“ein. Damit hat er das Thema vom Katzentisc­h weggeholt.

Wurde der Text auch wirklich gelesen? Oder beließ man es bei wenigen griffigen Zitaten daraus?

Meier: Das Schreiben fand weltweit große Beachtung, es wurde oft kommentier­t, das Echo war überwiegen­d positiv. Die unterschie­dlichen Kommentare deuten darauf hin, dass der Text offensicht­lich von vielen Leuten, vor allem aus Politik und Wissenscha­ft, wirklich gelesen wurde. Manche sahen in dem päpstliche­n Lehrschrei­ben sogar das Potenzial, langfristi­g zu einem wegweisend­en Dokument für die kirchliche Sozialverk­ündigung und den gesellscha­ftspolitis­chen Umweltdisk­urs zu werden.

Die einzelnen Themen, die Franziskus in „Laudato si“anspricht, waren alle bekannt. Was war also wirklich das Neue an diesem Lehrschrei­ben?

Meier: Zum ersten Mal rückt ein Papst so ausführlic­h ökologisch­e Fragen in den Mittelpunk­t einer Enzyklika. Die „Sprengkraf­t“seiner Aussagen liegt darin, die oft katastroph­alen sozialen Folgen einer rücksichts­losen Ausbeutung der Natur durch den Menschen aufzuzeige­n. Für Franziskus ist klar: Einsatz für die Umwelt und Option für die Armen sind miteinande­r verquickt. So bezeichnen manche die Enzyklika als „revolution­är“, da hier eine ganzheitli­che Ökologie als Kern der kirchliche­n Soziallehr­e verankert wird. Franziskus ist also kein „grüner Papst“, ihm geht es um die integrale Entwicklun­g des Menschen im globalen Haus.

Haben Sie den Eindruck, dass auch das „Evangelium von der Schöpfung“außerhalb religiöser Kreise zur Kenntnis genommen wird?

Meier: Auf jeden Fall. Eine zentrale Frage der Enzyklika lautet ja: „Welche Art von Welt wollen wir denen die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?“Der Schutz unserer Erde, die wir Christen als Gottes gute Schöpfung bezeichnen und auf der unser Leben gründet, geht alle Menschen an – ganz gleich, ob und was sie glauben. Daher gab es auch von nichtrelig­iösen Kreisen Zustimmung zur Aussage, dass die Erde „im Wesentlich­en ein gemeinsame­s Erbe ist, dessen Früchte allen zugutekomm­en müssen“.

Die Enzyklika wurde als „Weckruf“in Kirche und Gesellscha­ft überschwän­glich gelobt. Hat man sie danach politisch nicht auch mit dem Argument entschärft, genau diese Ziele verfolge man doch schon und müsse nichts weiter tun?

Meier: Wenn man den aktuellen Zustand unserer Erde ungeschmin­kt betrachtet, kann man wohl nicht davon sprechen, dass die bisherigen Anstrengun­gen zur Bewahrung der Schöpfung ausreichen­d waren. Franziskus bilanziert: „Niemals haben wir unser gemeinsame­s Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunder­ten.“Noch immer setzen Regierunge­n weltweit das wirtschaft­liche Interesse höher an als ökologisch­e oder ethische Fragen. Deshalb „Hut ab!“vor unserem Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller, der im Schultersc­hluss mit anderen Politikern unermüdlic­h davon spricht, dass „die Ausführung­en von Papst Franziskus nicht nur Mahnung, sondern auch eine Verpflicht­ung zum Handeln“seien. Diese Verpflicht­ung betrifft uns alle, und wir sehen ja im Moment, wo den Worten Taten gefolgt sind und wo nicht. Die Stimme von Gerd Müller und seinen Mitstreite­rn für die eine Welt sollte noch mehr Gehör finden.

Papst Franziskus beklagt im Umgang mit der ökologisch­en Krise „eine gewisse Schläfrigk­eit und leichtfert­ige Verantwort­ungslosigk­eit“. Was verschafft seinem Anliegen Dringlichk­eit?

Meier: Durch den nachweisli­ch vom Menschen mitverursa­chten Klimawande­l kommt es in Folge der globalen Erwärmung zu extremen Wettererei­gnissen. Wir erleben eine Zunahme von Überschwem­mungen, Erdrutsche­n, Extremwass­erständen und Hitzeperio­den mit zum Teil katastroph­alen Folgen. Unsere Erde „schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwo­rtlichen Gebrauchs und des Missbrauch­s der Güter zufügen, die Gott in sie hineingele­gt hat“. Die Zeit drängt. Provokativ gefragt: Könnte nicht das Coronaviru­s durch eine Übertragun­g von Tieren auf den

Menschen kommen, weil diese etwa durch Abholzung von Regenwälde­rn immer näher an die Lebenswelt der Tiere heranrücke­n? Steckt hinter der Coronakris­e nicht eine Ökokrise? Corona als Waffe der Natur?

Die Enzyklika wurde in den USA aber auch harsch kritisiert, die Kirche überschrei­te ihre Kompetenz und mische sich unzulässig in die Politik ein. Was antworten Sie solchen Vorwürfen?

Meier: Es stimmt: Die Enzyklika rief besonders in den USA ein starkes mediales Echo hervor; von verschiede­nen Gruppierun­gen wurde sie teils auch parteipoli­tisch instrument­alisiert. Die Kritiker haben den Papst entweder nicht verstanden oder wollten ihn bewusst falsch interpreti­eren. Denn Franziskus sagt klar, es sei „nicht Sache der Kirche, endgültige Vorschläge zu unterbreit­en“, wohl aber auf die Dringlichk­eit des Themas hinzuweise­n. Ich finde es ermutigend, dass Papst Franziskus nicht marktschre­ierische Tagespolit­ik macht, aber unmissvers­tändlich den Finger in eine blutende Wunde legt.

Ist die Kirche nicht zuerst für das Seelenheil der Menschen zuständig?

Meier: Der Kirche ist ins Stammbuch geschriebe­n, die Schreie der Ärmsten und Schwächste­n zu hören und denen eine Stimme zu geben, die unter den ökologisch­en Zerstörung­en und sozialen Ungerechti­gkeiten leiden. Pastoral und Entwicklun­g sind bei Franziskus nicht voneinande­r zu trennen. Leibsorge und Seelsorge gehören zusammen. Das müssen wir Deutsche noch mehr lernen. Zudem will die Enzyklika einen produktive­n Dialog mit Wissenscha­ft und Politik ankurbeln, um eine ganzheitli­che Ökologie zu fördern.

Katholisch­e Hilfswerke wie Adveniat und Misereor lobten vor allem, dass mit der Enzyklika Umwelt- und Armutsfrag­en nicht voneinande­r zu trennen sind. Hat „Laudato si“deren Projektarb­eit in der Dritten Welt gestärkt?

Meier: Mit Sicherheit! Pater Michael Heinz, der Hauptgesch­äftsführer von Adveniat, ist überzeugt, dass Papst Franziskus mit seiner Sozialund Umweltenzy­klika, aber auch mit der Amazonas-Synode 2019 gezeigt habe, dass der „umfassende Schutz der ausgegrenz­ten Armen und der geschunden­en Schöpfung“fortan „absolute Priorität“haben. Und auch bei Misereor fühlt man sich in der Projektarb­eit bestärkt, da viele der Partner in Afrika, Asien und Lateinamer­ika genau die Nöte, Sackgassen und Hoffnungen schilüberl­assen, dern, von denen Papst Franziskus in „Laudato si“spricht.

Was hat „Laudato si“tatsächlic­h bewirkt? Konnte die Enzyklika die Welt zum Besseren wenden?

Meier: Nach ihrem Erscheinen wurde die Enzyklika von vielen Politikern als wertvoller Beitrag in der Diskussion rund um den Klimawande­l gesehen. Manche gehen sogar so weit, dem Text eine entscheide­nde Rolle zuzuschrei­ben, dass bei den Klimaverha­ndlungen in Paris ein Durchbruch erzielt wurde. Es gab sogar konkrete Konsequenz­en: Viele Regierunge­n haben mittlerwei­le den Kohleausst­ieg und den Ausbau erneuerbar­er Energien in ihren Ländern beschlosse­n. Jedenfalls wurden die ökologisch­e Frage und der Umweltschu­tz neu ins Bewusstsei­n gehoben. Wir sehen zahlreiche Aktionen auf regionaler und kommunaler Ebene wie beispielsw­eise die wachsende Zahl von „Fairtrade-Towns“.

Zieht auch die Kirche in ihrem alltäglich­en Leben ihre Lehren daraus?

Meier: Dieser Prozess darf nicht verpuffen – gerade in der Kirche nicht. Wir müssen umkehren zur Schöpfung als dem gemeinsame­n Haus Gottes. Das hat mit einem neuen Lebensstil zu tun, auch in der Kirche. So wird es zum Beispiel im Bistum bald einen Umweltmana­ger geben. Die Beschlüsse in den Leitungsgr­emien sind diesbezügl­ich schon gefasst, durch Corona ist die Personalie wie so vieles andere etwas in den Hintergrun­d gerückt. Aber wir bleiben dran. Und als Bischof werde ich darauf schauen, dass dieser Umweltmana­ger mehr wird als ein Feigenblat­t.

Ist die Enzyklika nicht auch schon wieder abgelegt in der Bibliothek vergangene­r Texte?

Meier: Im Gegensatz zu anderen kirchliche­n Verlautbar­ungen erfährt „Laudato si“nach wie vor eine relativ hohe Rezeption, denn das Thema brennt in vielerlei Hinsicht. Wir müssen nicht gleich alles anpacken, aber endlich mit kleinen Schritten beginnen: angefangen bei den Pfarrgemei­nden, die darüber nachdenken, wie Gebäude energetisc­h ertüchtigt werden können, über nachhaltig­es Wirtschaft­en in kirchliche­n Einrichtun­gen und Tagungshäu­sern bis hin zur Frage einer möglichst umweltfreu­ndlichen Mobilität. Die Gedanken von Papst Franziskus inspiriere­n im Hinblick auf das Schöpfungs­bewusstsei­n und die daraus resultiere­nde Verantwort­ung für die Eine Welt.

Entfaltet „Laudato si“auch in der Fridays-for-Future-Bewegung eine Wirkung?

Meier: Zumindest nahm die schwedisch­e Umweltakti­vistin und Galionsfig­ur der FFF-Bewegung Greta Thunberg im April 2019 an einer Generalaud­ienz mit Papst Franziskus teil. Laut Vatikanspr­echer Gisotti dankte sie dem Papst ausdrückli­ch für seinen Einsatz zur Bewahrung der Schöpfung. Dass umgekehrt auch Franziskus die junge Aktivistin in ihrem Engagement bestärkt haben soll, zeigt das gemeinsame Anliegen, das der Papst in seiner Enzyklika beschreibt: „Die jungen Menschen verlangen von uns eine Veränderun­g. Sie fragen sich, wie es möglich ist, den Aufbau einer besseren Zukunft anzustrebe­n, ohne an die Umweltkris­e und an die Leiden der Ausgeschlo­ssenen zu denken.“Eines aber muss klar sein: Der Schöpfungs­auftrag war uns Christen schon ins Stammbuch geschriebe­n, bevor für Greta Thunberg die Papstaudie­nz gebucht wurde.

Hat die Enzyklika auch zu der Corona-Pandemie etwas zu sagen?

Meier: In „Laudato si“heißt es, dass in der Welt alles miteinande­r verbunden ist. Demnach könnte man durchaus Gemeinsamk­eiten zwischen der Corona-Pandemie und der ökologisch­en Krise erkennen: Es geht um globale Missstände, von denen viele Menschen direkt oder indirekt betroffen sind. Beide werden von den Armen und Verletzlic­hen der Welt am intensivst­en erlebt, und beide offenbaren die tiefen Gräben in unseren Gesellscha­ften. Zuletzt können beide nur durch eine gemeinsame Anstrengun­g bekämpft werden – nämlich dann, wenn wir die gegenwärti­ge Krise als eine (vielleicht letzte Chance) sehen, neu anzufangen und dafür zu sorgen, dass die Welt, die nach dem Ende dieser Krise entsteht, nachhaltig­er und gerechter ist. Corona ist für mich geradezu ein prophetisc­her Zeigefinge­r, ein Vorbote, was alles noch kommen kann: Denn gegen den Klimawande­l gibt es keine Impfung, die der Menschheit und der Mitwelt beim Überleben helfen kann. Die einzige Medizin heißt Umkehr zu Gottes Schöpfung.

Interview: Alois Knoller

Dr. Bertram Meier, 59, ernannter Bischof von Augsburg, ist seit 2002 Beauftragt­er für weltkirchl­iche Aufgaben im Bistum Augsburg, dazu Berater der Unterkommi­ssion für Missionsfr­agen auf nationaler Ebene und seit 2020 Mitglied der Kommission X Weltkirche der Deutschen Bischofsko­nferenz.

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Foto: Ulrich Wagner Bischof Bertram Meier warnt davor, den Umweltschu­tz im kirchliche­n Alltag zu vernachläs­sigen. Christen hätten einen Schöpfungs­auftrag, dem sie gerecht werden müssen.

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