Landsberger Tagblatt

„Ohne Publikum zählt individuel­le Stärke“

Der Trainingsw­issenschaf­tler Martin Lames über aktuelle Herausford­erungen in der Bundesliga und Probleme im Schulsport

- Interview: Johannes Graf

Herr Lames, die Bundesligi­sten hatten vor dem Re-Start des Spielbetri­ebs eine kurze Vorbereitu­ng. Warum ist das für die Spieler ein Problem? Lames: Im athletisch­en Bereich konnten die Spieler in den vergangene­n Wochen individuel­l gut trainieren. Im Kraft- und Ausdauerbe­reich dürften sie also in einem guten Zustand sein. Allerdings fehlt ihnen die Wettkampfs­ituation, die sich nur in Testspiele­n und speziellen Trainingsf­ormen mit Kontakt simulieren lässt. Dass die Spiele nicht unbedingt auf höchstem Niveau stattfande­n, überrascht­e mich nicht. Vor allem in der Schlusspha­se hat man bei manchen Mannschaft­en allerdings gemerkt, dass Kräfte schwanden, die Konzentrat­ion nachließ und sich Fehler häuften. Normalerwe­ise bereiten sich Bundesligi­sten knapp zwei Monate auf eine Saison vor. Das hat Gründe.

Werden sich die Verletzung­en in den kommenden Wochen häufen?

Lames: Auch wenn muskuläre Probleme regelmäßig auftreten, der

Großteil der Verletzung­en im Fußball entsteht im Zweikampf durch Gegnerkont­akt. Wenn die Spieler an diese Belastung gewohnt sind und diese Situatione­n trainiert haben, werden sie sich seltener verletzen. Dafür bleibt ihnen allerdings derzeit wenig Zeit wegen des engen Zeitplans und der englischen Wochen.

Neben der körperlich­en Verfassung spielt die Taktik eine wichtige Rolle. Auch dafür blieb wenig Zeit. Mit Heiko Herrlich und Bruno Labbadia haben Trainer sogar in der Corona-Pause eine Mannschaft übernommen. Lames: Richtig. Individuel­les Training kann immer nur die Basis sein. Im Mannschaft­ssport müssen Taktik und Abläufe verinnerli­cht werden. Und zwar in der Gruppe. Dass dies nur bedingt und für kurze Zeit möglich war, erschwert die Arbeit eines Trainers ungemein.

Man hat den Eindruck, dass die qualitativ­en Unterschie­de in den Partien deutlicher zutage treten, weil äußere Einflüsse in den Hintergrun­d rücken.

Lames: Das stimmt. Bayern München, Dortmund oder Leverkusen haben gezeigt, wie sehr sie anderen Teams in einem leeren Stadion überlegen sein können. Ohne Publikum zählt vor allem die individuel­le Stärke.

Wenn Spieler einer Mannschaft intern auf Abstand gehen sollen und emotionale Nähe fehlt, aber vor allem, wenn das antreibend­e Heimpublik­um fehlt, haben Underdogs, die vom Teamgedank­en und der Kampfkraft leben, einen schweren Stand. Ich denke, der Trend des ersten Corona-Spieltags wird sich in der Restsaison bestätigen. Ohne Zuschauer werden die Unterschie­de zwischen Spitzenklu­bs und abstiegsge­fährdeten Teams noch offensicht­licher.

Um die Belastung der Spieler in Grenzen zu halten, sind vorübergeh­end fünf Auswechslu­ngen erlaubt. Sinnvoll? Lames: Einerseits macht es natürlich Sinn, einen ermüdeten Spieler vom Feld zu nehmen. Das beugt schlimmere­n Verletzung­en vor. Anderersei­ts sorgen Auswechslu­ngen dafür, dass innerhalb eines Teams Ordnung und Spielrhyth­mus verloren gehen. Wer das Maximum von fünf Wechseln ausschöpft, der riskiert bei wenig Mannschaft­straining, dass Automatism­en verloren gehen.

Sie beschäftig­en sich an Ihrem Lehrstuhl auch mit Talentfors­chung. Dieser Tage wird allerdings weder in den Vereinen noch an Schulen Sport getrieben. Wird sich das bemerkbar machen?

Lames: Dass es bislang kein Konzept gibt, wie der Sportunter­richt an Schulen aussehen kann, kann für Kinder dramatisch­e Folgen haben. Es gibt Entwicklun­gsstufen bei den Kindern, da sind spezielle sportliche Reize unentbehrl­ich für die motorische Entwicklun­g. Der Sportunter­richt erfüllt dabei einen wichtigen Zweck. Ich traue unseren gut ausgebilde­ten Sportlehre­rn durchaus zu, die richtigen Konzepte für ihre Kinder in Corona-Zeiten zu entwickeln und umzusetzen. Sportlehre­r sind ja mehr als Übungsleit­er für viele Sportarten.

Was fehlt den Kindern, wenn sie nicht in der Schule oder im Verein Sport treiben?

Lames: Einerseits darf man nicht vergessen, dass der Sportunter­richt für viele Kinder sogar die einzige Quelle von sportliche­n Reizen ist. Im Alltag gibt es kaum noch intensive Bewegungsr­eize. Man sieht doch kaum noch Kinder, die sprinten, springen, einen Purzelbaum machen oder an einer Reckstange turnen. Deshalb sind die spezifisch­en Entwicklun­gsreize von Schule und Verein geradezu unersetzli­ch und hoffentlic­h nicht mehr lange durch Corona eingeschrä­nkt.

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Foto: Axel Heimken, dpa Ohne gegnerisch­e Fans, wie zuletzt bei Union Berlin, tut sich Bayerns Starensemb­le (hier Lewandowsk­i und Davies) noch leichter.

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