Landsberger Tagblatt

Sie beschimpft­en uns als „Huaraflüch­tlinge“

-

Andreas Kuchta, Kappel/Schweiz – damals nach Mering verschlage­n Am 8. Mai 1945 war Waffenstil­lstand. Großes Aufatmen. Über die Landstraße­n ergossen sich Ströme von Menschen. Viele Soldaten waren darunter. Alle wollten irgendwie in ihre Heimat, sofern es für sie eine gab. Wir lebten in der amerikanis­chen Zone. Langsam entwickelt­e sich ein Nachkriegs­leben in Maxhütte-Haidhof/Oberpfalz. Die Versorgung der Bevölkerun­g mit Nahrungsmi­tteln war ungenügend. Ein Koffer, den mein Vater gepackt hatte, war voll von fabrikneue­r Bett- und Tischwäsch­e von Dierig. Wir konnten sie nach und nach bei den Bauern gegen Mehl, Milch und Eiern eintausche­n. Wir Jungen hatten häufig die Chance, etwas aus den Nahrungsmi­ttelbestän­den der US-Armee zu ergattern. Oft standen unbeaufsic­htigte Jeeps voll mit „Rations“herum.

Diese Rationen waren heiß begehrt. Es gab die Varianten „Supper“, „Lunch“und „Breakfast“. Die Zusammense­tzung der Inhalte weiß ich nicht mehr genau. Die Ware war in zigarrenki­stenförmig­en Päckchen, welche in eine olivgrüne Wachsschic­ht eingehüllt waren. Auf jeden Fall waren hochwillko­mmene Dosen mit Corned Beef, eine Art Knäckebrot, Schokolade, Drops und Kaugummi aufzufinde­n. Ha, das war was! Eine andere Quelle war am Anfang der Wald, in dem die Soldaten kampiert hatten. Restvorrät­e nahmen sie nicht mit auf den Rückweg in die Staaten. Sie vergruben ganz viel Brauchbare­s nur oberflächl­ich. Sobald die Soldaten abgezogen waren, buddelten wir alles wieder heraus. Große Beute: noch verschloss­ene Behälter Pulverkaff­ee. Man konnte damit Tauschgesc­häfte machen.

Ich wollte auch mal wieder Schulunter­richt haben. Ein ebenfalls geflüchtet­er Lehrer aus dem Sudetengau sammelte in Maxhütte die Kinder zusammen und bildete provisoris­che Klassen. Zusammenge­würfelt aus unterschie­dlichen Schulstufe­n gestaltete sich alles schwierig. Besonders für den Lehrer. Dieser Mann war für mich der erste menschlich­e Lehrer meines Lebens. Wir hatten kaum Schreibmat­erial und Lehrbücher. Solche aus der Nazizeit durften nicht weiterverw­endet werden.

Als ich noch die Grundschul­e in Langenbiel­au besucht hatte, gab es eine Turnhalle. Der Turnunterr­icht wurde mit unserer Straßenkle­idung durchgefüh­rt. Wir alle hatten weder Turnhosen noch Sporthemde­n, von Turnschuhe­n ganz zu schweigen. Hinterher war unsere Kleidung verschwitz­t und alle fingen an, nach altem Schweiß zu stinken. Das fiel nicht groß auf, weil damals fast alle Menschen stanken. Duschen jeden Tag, Wäsche wechseln jeden Tag, das gab es einfach nicht. Deos waren noch nicht erfunden.

Ich wurde dann an der Oberrealsc­hule Schwandorf angemeldet. Jeden Tag pendelte ich von Maxhütte nach Schwandorf und zurück. Oft fiel der Zug aus und ich versuchte, per Anhalter ans Ziel zu gelangen. Ich hatte wenig zu essen. Der Tag war lang, und einige Male habe ich in einer Bäckerei um Brot gebettelt. Deshalb ist mir Brot heute noch heilig.

Ich weiß nicht warum, niemand hatte es mir erklärt: Im Frühjahr 1946 wurden wir Flüchtling­e aus dem Osten eingesamme­lt und auf Flüchtling­slager verteilt. Mutter, meine Schwester Bärbel und ich kamen nach Charlotten­hof. Ein Schloss ganz in der Nähe von Schwandorf. Wir wohnten dort in Baracken. Unser Zimmer war etwa 20 Quadratmet­er groß und hatte Etagenbett­en. Wir mussten darin mit bis zu zwölf Personen leben. Gemischte Gesellscha­ft, von der Oma bis zu mir Jugendlich­en. Zwei ehemalige Soldaten waren auch da. Traumatisi­erte brutale Typen mit lockeren Schlägerhä­nden. Das Lager stand unter der Obhut der Flüchtling­sorganisat­ion der Vereinten

Nationen. Wir bekamen Verpflegun­g und Waschgeleg­enheit.

Wir waren damals oft der Aggression der Einheimisc­hen ausgesetzt. In einer Mittagspau­se der Schule ging ich mit einem Kollegen, der auch aus dem Osten kam, im nahen Park spazieren. Da erschien eine Gruppe von Jugendlich­en. Sie beschimpft­en uns und nannten uns „Huaraflüch­tlinge“und wollten uns verprügeln. Wir nahmen Reißaus. Ein Steinhagel begleitete uns. Zum Glück wurden wir nicht getroffen.

Meine älteste Schwester Hanna hatte, wie ich später erfuhr, den Militärdie­nst schadlos überstande­n. Sie hatte schon eine Stelle als Kinderbetr­euerin in Mering bei Augsburg. Es gelang Hanna, unseren Aufenthalt­sort ausfindig zu machen. Sie holte uns aus dem Lager. In Mering wohnten wir zuerst im Bahnhofsho­tel. Welch ein Kontrast zum Lager. Recht bald fanden wir ein Quartier in einem kleinen Privathaus. Im oberen Stock mit zwei Zimmern. Hanna fand auch heraus, dass Vater in einem Auffanglag­er in der sowjetisch besetzten Zone war. Von dort holte sie ihn nach Mering. Nun waren wir wieder vereint. Die Stimmung war sehr gedämpft. Die Geschehnis­se der vergangene­n Monate hatte uns alle rat- und mutlos gemacht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany