Der Bauer verjagte uns mit der Peitsche
Frieda Denk, Lauingen
Ich war zwei Jahre alt, als wir von zu Hause flüchten mussten. Und ich war 13, als ich nach vielen Stationen zusammen mit meiner Mutter, die damals 46 Jahre alt war, meinen drei Schwestern (21, acht und sieben Jahre) im März 1945 in Mörslingen im Landkreis Dillingen angekommen bin.
Damals mussten alle „Einheimischen“Flüchtlinge aufnehmen. Deshalb wurden wir gleich nach der Ankunft verteilt. Meine Mutter und meine beiden kleinen Schwestern und ich zusammen in der Nachbarschaft. Es war normal, dass immer zwei Kinder zusammen in einem Bett schlafen mussten. Die Bauern waren natürlich nicht begeistert, dass sie nun Flüchtlinge unter ihrem Dach dulden mussten. Das ließen sie uns bei jeder Gelegenheit spüren. „Faule Zigeuner“war da noch die harmloseste Beschimpfung. Wir hatten nur das, was wir am Leibe trugen und einen kleinen Koffer – alles andere musste auf der Flucht immer wieder aufgegeben werden. Es war eine schwere Zeit.
Zum Umstand, nicht willkommen zu sein, kamen Hunger und Armut. Oft ging ich in den Nachbarorten von Tür zu Tür und bettelte um ein bisschen Brot für meine Geschwister und mich. Nicht selten ohne Erfolg. Wenn dann doch barmherzige Menschen mir etwas Brot gaben, setzte ich mich zuerst hinter eine Mauer und aß mich satt – den Rest brachte ich nach Hause. Um uns selber zu helfen, gingen wir auf die Felder, um Ähren zu sammeln, die dort nach der Ernte noch lagen. Ohne Schuhe (wir hatten ja keine mehr) wurden die Füße blutig von den Stoppeln des Getreides. Aus dem wenigen Gefundenen machte meine Mutter dann etwas Mehl für uns. Oder wir sammelten die nach der Ernte übrigen Kartoffeln auf, die teilweise schon erfroren oder verfault waren. Hauptsache, etwas zu essen.
Wehe, wenn wir uns erlaubten, am Wegesrand Fallobst aufzusammeln. Dann kam der Bauer mit der Peitsche und verjagte uns oder drohte, den Hund auf uns zu hetzen. Für meine Mutter – mein Vater war im Krieg gefallen, mein älterer Bruder ebenfalls – war es sehr schwer, uns Kinder durchzubringen. Sie ging oft zu Fuß zu den Müllern der Gegend, um nach etwas Mehl zu fragen. In guter Erinnerung blieb uns in diesem Zusammenhang der Brunnenmüller in Finningen. Er hatte immer etwas Mehl für uns übrig. Dafür bin ich heute noch dankbar.
Eine besondere Herausforderung war für mich auch die Schule.
Durch die Flucht hatte ich keine Möglichkeit, irgendwo ein Schuljahr zu Ende zu besuchen. In Mörslingen erwartete man gleich viel von mir – das war schwer…
Meine Banknachbarin war ein einheimisches Mädchen. Eines Tages trug sie in der Schule einen breiten goldenen Armreif, der als Schlange geformt war, mit zwei grünen Steinen, die die Augen bildeten. Als ich sie darauf ansprach, wo sie diesen ausgesprochen schönen und wertvollen Reif herhabe, sagte sie, dass ihre Mutter ihn für ein Stück Butter eingetauscht hatte.
Zu dieser Zeit kamen oft Menschen aus Augsburg aufs Land und hatten die Wertsachen, die sie noch besaßen, dabei, um dafür Lebensmittel einzutauschen. Oft zu einem Bruchteil von dem, was diese Gegenstände wie Schmuck, Silber oder edle Wäsche wert waren…
Zu dieser Zeit gab es sogenannte Lebensmittelmarken, die meine Mutter für sich und uns Kinder bekam. Diese waren in verschiedene Gattungen unterteilt. Zum Beispiel Fett, Brot, Milch etc. Immer für einen Monat. Man musste sie ausschneiden und die Geschäfte mussten sie aufkleben, um dann den Gegenwert dafür zu erhalten. Außerdem gab es für alle Erwachsenen sogenannte Rauchermarken. Auch meine Mutter und meine große Schwester bekamen diese. Da beide nicht rauchten, konnten wir dafür oft auch etwas eintauschen. Zum Beispiel ein bisschen Speck oder Kartoffeln. Da konnten wir einmal im Monat etwas Nahrhaftes essen!
Zu dieser Zeit gab es auch keine Arbeit, um etwas verdienen zu können. Meine große Schwester arbeitete bei einem Bauern, bei dem sie einquartiert war, den ganzen Tag schwer. Dafür bekam sie einen Liter Milch und etwas Brot, das eigentlich gerade für sie reichte. Trotzdem gab sie uns immer etwas ab, bevor sie vor Müdigkeit schon am Abendbrottisch einschlief.
Etwas später hatte ich auch von der Möglichkeit gehört, in Dillingen in einer Drahtfabrik zu arbeiten. Dort wurden Maschendrahtzäune hergestellt. Also ging ich zu Fuß jeden Tag von Mörslingen nach Dillingen und arbeitete dort. Einmal habe ich mich gemeldet, um Dächer zu teeren. Dabei machte ich meine Kleidung kaputt und mein einziges Paar Schuhe. Zu allem Übel wurde mir nicht einmal der Lohn gezahlt, und ich war gezwungen, diesen einzuklagen…
Ach, es waren sehr schwere Zeiten. Ich wünsche niemandem, so was zu erleben. Trotzdem bin ich zufrieden, wie sich alles entwickelt hat und habe keinen Gram.