Landsberger Tagblatt

Atomkraft? Ja bitte!

Als 1945 die große Bombe auf Hiroshima fiel, lag die Stadt in Schutt und Asche. Da war aber auch der Schock, technologi­sch besiegt worden zu sein. Heute ist er noch immer ein Grund, warum Japan selbst nach dem Desaster von Fukushima an der Kernkraft festh

- VON FELIX LILL Mitarbeit: Chika Tsuda

Matsuyama

Am Morgen des großen Knalls war Sumako Hamada gerade im Garten und wusch die Wäsche ihrer Eltern. Das Wetter war klar, die Hitze, die der Tag bringen würde, schon früh zu erahnen. Um Viertel nach acht blickte sie in die Ferne, das sollte sich die 18-Jährige für immer merken. Denn um diese Uhrzeit passierte etwas, das nicht von dieser Welt schien.

„Plötzlich leuchtete der Himmel unglaublic­h hell“, erinnert sie sich. „Ich war alt genug, um zu wissen, dass das nicht die Sonne sein konnte.“In Matsuyama, einer Stadt auf der japanische­n Insel Shikoku, blieb es bei dieser unglaublic­hen Kulisse. Hier tat sie nicht weh.

80 Kilometer weit konnte Sumako Hamada an diesem Morgen blicken. Dorthin, auf der anderen Seite des Ufers nahe ihrer Heimat, wo die Welt augenblick­lich in Schutt und Asche verwandelt worden war. Um 8.16 Uhr des 6. August 1945 war aus einem US-amerikanis­chen Flugzeug namens Enola Gay in einigen Kilometern Höhe eine mit Uran 235 gefüllte Bombe gefallen. 43 Sekunden später, 600 Meter über der Industries­tadt Hiroshima, explodiert­e sie.

Mit einer Geschwindi­gkeit von 440 Metern pro Sekunde breitete sich ein riesiger Feuerball aus, die Temperatur raste auf fast 4000 Grad Celsius. Drei Minuten später ragte eine pilzförmig­e Wolke in den bis dahin sonnigen Himmel. Dann fiel schwarzer Regen.

Knapp 70 000 Menschen starben in Sekundensc­hnelle, an den Tagen und Wochen danach folgten an die 100 000 Tote. Es war die erste militärisc­h eingesetzt­e Atombombe der Geschichte. Drei Tage später folgte eine zweite über Nagasaki.

Als die Bauerntoch­ter Sumako Hamada eineinhalb Wochen danach davon erfuhr, dass der Krieg sein Ende gefunden hatte, überrascht­e sie das nicht mehr. Die Radioanspr­ache des Tennos, Kaiser Hirohito, war zwar ein Ereignis für sich.

Bis zu jenem 15. August 1945 hatten die allermeist­en Japaner noch nie die Stimme ihres für gottähnlic­h erklärten Staatsober­haupts gehört. Doch für Sumako, deren Bruder als Soldat kämpfen musste, hatten die Worte kaum noch Informatio­nswert. „Ich hatte das Gefühl, dass die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit war.“Erleichter­ung empfand sie dennoch: „Der Krieg hatte uns alle müde gemacht. Mich auch.“

In den Tagen, Wochen und Jahren nach der totalen Niederlage rückte das Bild der Müdigkeit in den Hintergrun­d. Bis zum letzten Mann würde Japan kämpfen, so hatten es die Generäle und Journalist­en im Land immer wieder behauptet. Damit eine Kapitulati­on mitsamt überlebend­er Bevölkerun­g nicht zu sehr wie ein Widerspruc­h wirkte, fand man ein Narrativ für die Niederlage: Japan, dessen Krieg schon 1931 mit der Invasion der Mandschure­i in Nordostchi­na begonnen hatte, sei nicht an sich selbst gescheiter­t, sondern an der Technologi­e.

Das hatte durchaus seine Logik. Sumako Hamada und die allermeist­en anderen Japaner wussten davon nichts, aber auch Japan hatte während des Krieges versucht, eine Atombombe zu bauen. Nachdem im Dezember 1938 die deutschen Chemiker Lise Meitner, Fritz Strassmann und Otto Hahn die Möglichkei­t zur Kernspaltu­ng entdeckt hatten, sprach sich das militärisc­he Potenzial einer nuklearen Kettenreak­tion auch in internatio­nalen Kreisen schnell herum. In Japan setzte sich der Physiker Yoshio Nishina, ein Freund der führenden Wissenscha­ftler Niels Bohr und Albert Einstein, ab 1939 damit auseinande­r. Zwei Jahre später erhielt Nishina den offizielle­n Auftrag, eine Atombombe zu konstruier­en.

Nur verlief das Projekt nicht wie geplant. Es mangelte unter anderem am Rohstoff Uran. Als man in Deutschlan­d und bei weiteren Verbündete­n um Unterstütz­ung bat, fand sich zwar einiges zusammen, doch für eine zerstöreri­sche Bombe reichte es noch lange nicht. Von der Bewertung in der ersten Phase des Vorhabens konnte man nicht nennenswer­t abrücken. Eine Atombombe, hieß es darin, sei zwar prinzipiel­l möglich, aber „es wäre wahrschein­lich selbst für die USA schwer, die Anwendung von Atomenergi­e während des Kriegs zu realisiere­n“. Am Ende wurde Japans Atomlabor durch einen amerikanis­chen Luftangrif­f zerstört und auch nicht wieder aufgebaut. Das „N-Projekt“, benannt nach Yoshio Nishina, war gescheiter­t.

Entspreche­nd tief saß der Schock nach dem 6. August 1945. Japans Kaiserlich­e Armee hatte zeitweise fast den ganzen Pazifik unter Kontrolle gehabt. Im Dienst des Militärs führten japanische Wissenscha­ftler medizinisc­he Versuche an Menschen durch. Bürokraten beorderten ausländisc­he Frauen in Bordelle an der Front. Seinen Bürgern präsentier­te man, so gut es ging, Bilder der Überlegenh­eit. Doch plötzlich war der Stolz des japanische­n Kampfes kleingemac­ht.

Robert Jacobs, ein wohlgenähr­ter Herr in kurzärmlig­em Hemd, ist Historiker an der City-Universitä­t Hiroshima. Er forscht zum Trauma, das die Explosion dieser eigentlich unmöglich geglaubten Bombe bedeutete. „Als die Bomben ausgerechn­et über Japan explodiert­en“, sagt Jacobs in seinem mit Büchern vollgestel­lten Büro, in dem es so heiß ist, dass er die Klimaanlag­e voll aufdreht, „muss die Erschütter­ung ungefähr so groß gewesen sein, wie wenn du in einem Duell kämpfst und dein Gegner sich plötzlich wegbeamt: Du hast mal gehört, dass diese Technik theoretisc­h möglich ist, aber praktisch völlig unrealisti­sch sein muss.“

Dieses Trauma sieht Jacobs als entscheide­nd für die Politik der folgenden Jahre an. „Japan wurde in relativ kurzer Zeit zu einem der führenden Standorte für Atomtechni­k.“Als nach dem Zweiten Weltkrieg die USA auf den Inseln Japans regierten und in die neue Verfassung einen Pazifismus­artikel schrieben, blieb dem ostasiatis­chen Land nichts anderes übrig, als auf die Forschung zu setzen. Statt ins Militär, das man ohnehin nicht mehr haben durfte, wurde in die Wissenscha­ft investiert. Und es wurden Legenden gebildet: Schon 1946 gab es Meldungen, nach denen Japan kurz vor der Produktion einer Bombe gestanden habe. Angeblich gab es sogar einen Test. In Wahrheit war das Land von der Fertigstel­lung einer Bombe weit entfernt gewesen.

Doch die geopolitis­chen Entwicklun­gen trugen dazu bei, dass das Land bald seine Kernspaltu­ngen bekam. „Anfang der 1950er Jahre wollte US-Präsident Eisenhower vor allem die liberalen Länder der Welt enger zusammenbr­ingen“, sagt der US-Amerikaner Jacobs. „Dazu hielt er vor den Vereinten Nationen seine ‚Atoms for Peace‘-Rede. Er plädierte für die friedliche Nutzung von Kernspaltu­ngen in Form von Atomkraft.“

Im Frühjahr 1956 öffnete dann, wenige Kilometer vom Unicampus entfernt, auf dem sich Robert Jacobs’ Büro befindet, das Friedensmu­seum von Hiroshima. Die erste Ausstellun­g lautete „Atoms for Peace“. „Sie war eine echte Propaganda­veranstalt­ung für die Nutzung von Atomkraft.“Man zeigte, wie eine durch Atomtechni­k angetriebe­ne Roboterhan­d japanische Kalligrafi­e zeichnen konnte. Auch ein Atomreakto­r in Miniaturfo­rm war ausgestell­t. Und man deutete an, dass Nuklearene­rgie die Strahlensc­häden der Atombomben­überlebend­en heilen könnten. Das Publikum war begeistert.

Sumako Hamada gehörte nicht zu den Besuchern der Ausstellun­g. Aber auch sie, die die Zerstörung­skraft aus so großer Distanz klar hatte sehen können, empfand kaum noch Skepsis bei der Idee, die nuklearen Kettenreak­tionen auch in Japan zu nutzen. „Wir haben uns darüber keine großen Gedanken mehr gemacht“, sagt sie, auf der Bettkante ihres Zimmers in einem Seniorenhe­im sitzend. Sie betrachtet einige alte Bilder. „Ich war zwar zu Kriegsende etwas pummelig“, erzählt sie schmunzeln­d, „weil wir als Bauern immer Reis hatten. Aber wir waren trotzdem arm. Zu uns kamen keine neuen Produkte. Nicht mal

Textilien.“Die heute 93-jährige Sumako Hamada und die anderen in Matsuyama wollten Fortschrit­t. Warum nicht mit Atomkraft?

Kurz nach der Ausstellun­g in Hiroshima baute Japan in der einstigen Stadt der Bombentrag­ödie seinen ersten Atomreakto­r. Und es dauerte nicht lange, bis viele weitere folgten. Über die folgenden Jahrzehnte entwickelt­e sich das Land, das am Atombomben­bau gescheiter­t war, zu einem der führenden Standorte für Kernphysik. Unternehme­n wie Hitachi, Toshiba, Mitsubishi oder Japan Steel Works avancierte­n zu den weltweit größten Unternehme­n der Branche. In Tsuruga, einer Stadt im Westen des Landes, wurde einer der modernsten Forschungs­reaktoren überhaupt gebaut. „Bis heute verkörpert das Atom in gewissen Kreisen vor allem Fortschrit­t“, sagt Robert Jacobs.

Als am 11. März 2011 zuerst die Erde gewaltig bebte und dann mehr als 20 Meter hohe Wellen über die Nordostküs­te hereinbrac­hen, havarierte in Fukushima ein Atomkraftw­erk. Hunderttau­sende mussten evakuiert werden. Wieder fiel Japan einer nuklearen Kettenreak­tion zum Opfer. Und erstmals bildete sich im Land eine sichtbare Anti-Atomkraft-Bewegung. Umfragen zeigen sogar, dass die Mehrheit der Menschen in Japan nun gegen Atomenergi­e ist. Doch die Regierung beeindruck­t das kaum. Eineinhalb Jahre nach dem Atom-GAU wurde mit Shinzo Abe ein Mann zum Premiermin­ister gewählt, der partout an der Kernkraft festhalten will. Mehrere der zwischenze­itlich gut 50 herunterge­fahrenen Reaktoren ließ er unter strengeren Bedingunge­n wieder in Betrieb nehmen. Und ein Klüngel aus Politikern, Unternehme­rn und atomfreund­lichen Forschern, den man in Japan oft das „nukleare Dorf“nennt, hat es mittlerwei­le geschafft, das FukushimaD­esaster als eine Erzählung von menschlich­en Fehlern zu prägen.

Mit anderen Worten: Das Unglück von 2011 sporne nur dazu an, weiter auf die Atomkraft zu setzen.

Dabei will man in der regierende­n Liberaldem­okratische­n Partei auch mehr als das. Immer wieder haben Politiker der ersten Reihe Gedanken geäußert, die aufhorchen ließen. Ende 2017 sagte der ehemalige Verteidigu­ngsministe­r Shigeru Ishiba: „Japan sollte die Technologi­e haben, um eine Atomwaffe zu bauen, wenn es dies will.“Ishiba gilt als aussichtsr­eicher Kandidat auf die Nachfolge als Premiermin­ister.

Wenn Sumako Hamada von solchen Äußerungen hört, vergeht ihr der Appetit. Gerade wurde ihr Essen ans Bett gebracht, Reis mit Fisch und Gemüse. Aber bei dem Gedanken wird ihr ganz anders. „Niemand in der Welt sollte Atomwaffen besitzen. Die richten doch nur Schaden an.“

Die Japaner wollten selbst eine Atombombe bauen

Der Bauerntoch­ter vergeht der Appetit

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Foto: akg-images So sah es in Hiroshima etwa acht Monate nach dem Abwurf der Atombombe aus.
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Foto: ABC News 24, dpa Das havarierte Atomkraftw­erk Fukushima 2011.
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Foto: Felix Lill Die Augenzeugi­n Sumako Hamada im Seniorenhe­im.

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