Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (18)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Er wurde das Gefühl nicht los, der Botschafter wisse viel mehr, als er verlauten ließ. Der Mann sprach, doch seine Worte schmeckten nach Formalin, als wären sie konserviert und würden bei Bedarf in festgelegter Reihenfolge aus dem Behälter geholt.
Enttäuscht verließ Barudi nach etwa einer Stunde die Botschaft und verfluchte den Tag. Aber nach ein paar Schritten kehrte seine innere Ruhe zurück. Nach vierzig Jahren im Dienst war er es gewohnt, sich am Anfang eines Falles verloren zu fühlen, und hatte gelernt, auch seinen Zorn in Zaum zu halten.
Im Auto fiel ihm plötzlich der katholische Patriarch Bessra ein. Barudi fuhr nur ein paar Hundert Meter, dann hielt er am Straßenrand. Er kannte Bessra seit dreißig Jahren. Damals war der Patriarch noch ein einfacher Priester gewesen. Er war ein kluger, manchmal übertrieben diplomatischer Mann. Vielleicht hätte er sonst die Interessen seiner katholischen Gemeinde nicht vertreten
können, rechtfertigte Barudi den Patriarchen gegenüber seinen Kritikern. Er tippte die direkte Durchwahl in sein Handy ein. Der Patriarch war sofort am Apparat.
Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln kam Barudi zur Sache. „Exzellenz, kann ich vertraulich mit Ihnen reden?“
Der Patriarch lachte. „Verehrter Kommissar, eine Beichte am Telefon? Das gibt es nicht, denn da hören neben Gott auch noch einige Teufel mit. Kommen Sie zu mir. Wo sind Sie im Moment?“
„Im Abu-Rummaneh-Viertel, aber wenn Sie Zeit für mich haben, bin ich in einer Viertelstunde bei Ihnen.“
„Fahren Sie vorsichtig. Ich habe heute Zeit. Zwei Termine sind ausgefallen, also spielen Sie mit Ihrer Beichte den Pausenfüller.“Er lachte wieder. Als Barudi eine halbe Stunde später vor dem Sitz des Patriarchen in der Saitun-Gasse eintraf, freute er sich über den großen freien Parkplatz. Bessra empfing ihn herzlich und zeigte sich schockiert über die Nachricht von der Ermordung des Kardinals. Er versicherte, mit niemandem darüber zu sprechen, und Barudi glaubte ihm vorbehaltlos. Wer mehr als einer Million Katholiken vorstand, war es gewohnt, geheime Nachrichten für sich zu behalten.
„Exzellenz, wissen Sie, warum der Kardinal nach Syrien gekommen ist?“
„Nein, wir waren leider nicht einbezogen“, sagte der Patriarch bitter. „Niemand in Rom hat sich bemüßigt gesehen, uns zu informieren, wie das bisher üblich war. Erst als die Botschaft einen Empfang für den Kardinal gab, hat man uns immerhin dazu geladen.“
„Das finde ich aber seltsam“, sagte Barudi aufrichtig. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass man das Oberhaupt der katholischen Kirche von Antiochien und dem ganzen Orient, von Alexandria und Jerusalem, über den Besuch eines katholischen Würdenträgers nicht informiert hatte. „Und haben Sie ihn bei dieser Gelegenheit nicht gefragt, weshalb er nach Syrien gekommen ist?“
„Das verbot mir die Höflichkeit. Ich dachte, er würde mich vielleicht noch aufsuchen und mir berichten, ich stehe in der kirchlichen Hierarchie ja über ihm. Die offizielle Erklärung,
er wolle eine Kirche im Norden einweihen, ist mehr als lächerlich. Was er dort genau vorhatte, weiß niemand. Jedenfalls nicht offiziell!“, setzte der Patriarch nach und machte lächelnd eine Pause. „Aber Bischof Tabbich hat über einen Freund im Vatikan mehr erfahren.“
„Und?“
„Kardinal Cornaro sei in geheimer Mission unterwegs, um die Wundertaten eines Einsiedlers in der Nähe von Aleppo zu überprüfen. Der Bischof hat Kardinal Cornaro aufgesucht und ihn auf Dumia, die bekannte Heilerin im christlichen Viertel angesprochen. Aber der Kardinal soll ihm arrogant ausgewichen sein.“
„Kann ich selbst mit Bischof Tabbich sprechen?“
„Selbstverständlich, aber er ist gerade in Jordanien unterwegs und kommt erst in einer Woche zurück“, erwiderte Patriarch Bessra.
„Und Sie haben den Kardinal nur das eine Mal gesehen? Oder gab es mehrere Treffen?“
„Nein, ich bin ihm nur bei diesem Empfang begegnet. Ich hatte wirklich kein Interesse, ihn wiederzusehen. Die Milde der Gastfreundschaft hört dort auf, wo der Gast den Gastgeber beleidigt. Hier in Damaskus aufzutreten, ohne uns offiziell zu informieren, ist eine Beleidigung.
Wir reden nicht öffentlich darüber, um uns nicht vor den Muslimen lächerlich zu machen, aber stellen Sie sich vor, ich würde nach Rom fahren und eine Kirche einweihen oder irgendwelche Wunderheiler oder Scharlatane dort kontaktieren, ohne den Papst zu informieren.“
„Scharlatane? Sie meinen den Bergheiligen in Derkas? Das ist doch kein Heiliger, sondern ein bekannter Heiler, aber er ist Muslim und hat mit unseren christlichen Heiligen nichts zu tun. Und seinetwegen soll ein Kardinal aus Rom gekommen sein? Das wäre doch Aberglaube!“
„Ja, mein Lieber, ich hätte ihm geraten, lieber ein paar freie Tage in unserer schönen Stadt zu genießen und dann nach Rom zurückzufliegen. Lieber Barudi, wir kennen uns seit Jahrzehnten, und ich verrate Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass ich genau wie mein Vorgänger Maximus V. kein Anhänger von Wundertätern bin. Auch nicht von Dumia, mögen mein Bischof und einige Pfarrer sie auch für heilig halten. Die Frau kann offenbar in der Tat heilen. So auch der sogenannte Bergheilige. Einige Menschen besitzen übernatürliche Kräfte, und ich freue mich für jeden geheilten Kranken, aber unser Christentum braucht dieses ganze Theater nicht.“
„Aber viele Pfarrer und Bischöfe glauben fest daran“, entgegnete Barudi in Erinnerung an seine Kindheit im Süden, wo es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von Wunderheilern und wundersamen Erscheinungen nur so gewimmelt hatte.
„Und so mancher Papst auch. Der verstorbene Papst Johannes Paul II. war ein großer Förderer von Wunderheilern. Er erhob einige zu Heiligen, die seine Vorgänger für Scharlatane hielten. Das ist ein heikles Thema. Wie dem auch sei, der Bergheilige im Norden ist ein Scharlatan, er ist eine Teufelsbrut, ob er Kranke heilt oder nicht…“Bessra machte eine abfällige Handbewegung und schwieg, um seinen Zorn und seine Verachtung zu bremsen.
Barudi spürte die Bitterkeit in den Worten des Patriarchen. Er erklärte sich ohne jegliche Heuchelei mit ihm solidarisch und setzte mit einer Frage nach: „Wäre es denn nicht denkbar, dass der Vatikan aus Überheblichkeit die katholische Kirche im Orient verachtet?“
Der Patriarch bestätigte weder, noch dementierte er die Vermutung, und Barudi begriff, dass sich der Diplomat wieder im Griff hatte. Er erzählte von seinen Reisen nach Europa und von seiner Enttäuschung darüber, dass man ihn dort wie einen Exoten behandelt hatte. »19. Fortsetzung folgt