Alles hängt mit allem zusammen
Colum McCann Israel und die Palästinenser: Ein meisterhaft gefügter Roman aus 1001 Kapiteln
Rami Elhanan ist Israeli. Er war Soldat. Seine 13-jährige Tochter Smadar stirbt 1997 bei einem palästinensischen Selbstmordattentat. Bassam Aramin ist Palästinenser. Er warf Handgranaten und saß sieben Jahre in israelischer Haft. Seine zehnjährige Tochter Abir stirbt 2007 durch ein Gummigeschoss eines israelischen Grenzsoldaten. Die Männer werden Freunde – und sie kämpfen über Grenzen hinweg gemeinsam für Versöhnung und Frieden, gegen die Spirale von Rache und Gewalt.
Colum McCann nennt sein 600 Seiten starkes Buch über zwei Väter, die im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt ihre Kinder verloren haben, einen „Hybrid-Roman“. Titel: „Apeirogon“– das bedeutet „eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten“. Rami und Bassam gibt es wirklich. Der irischstämmige, in New York lebende Colum McCann ist den Männern auf einer Bildungsreise durch Israel und die palästinensischen Gebiete begegnet und hat daraus ein einzigartiges literarisches Werk komponiert.
Aufgefächert in 1001 kleine, oft nur ein paar Zeilen lange Kapitel (natürlich eine Hommage an Tausendundeine Nacht) entfaltet McCann seine komplexe Erzählung, die Recherche-Wunderwerk und schillerndes Kaleidoskop ist. Fünf Jahre hat der 1966 geborene Schriftsteller an dem Werk gearbeitet. Wie der Autor ein Gespinst aus Querverweisen, Analogien, Gegenschnitten, Spiegelungen, Tiefenbohrungen, Abschweifungen und Perspektivwechseln wuchern lässt und es zugleich souverän choreografiert und beherrscht, ist meisterhaft. Seinen Bauplan finden wir auf Seite 583, wo McCann in einem Textbaustein schreibt: „Aus einer Geschichte entsteht eine andere.“Diesem Prinzip folgt das Buch, das weit mehr erzählt als nur die Schicksale der Familien Elhanan und Aramin, in seiner Erzähllust und Detailfülle ein Panorama des Menschseins entwirft. Alles hängt mit allem zusammen, sagt dieses Buch, das eine Wundertüte ist – traurig, überraschend, ermutigend, weise, zornig.
Colum McCann ist ein Experte der literarischen „Spekulation“auf Basis von realen Personen und Ereignissen. Seine Doku-Romane über Rudolf Nurejew („Der Tänzer“) oder den Seilakrobaten Philipp Petit („Die große Welt“) sind jedoch konventioneller als das aus Bruchstücken zu einem großen Bild zusammengefügte „Apeirogon“. Immer wieder umkreist der Roman den Schmerz und die Trauer der Familien, gibt den Erinnerungen an Smadar und Abir Raum, folgt der heroischen Beharrlichkeit der Väter, gegen Zweifel und Ablehnung für Versöhnung einzutreten. Eine ihrer gemeinsamen Vortragsreisen führt sie auch nach Deutschland – das Rami eigentlich nie betreten wollte. McCann schildert die Gefängnisjahre Bassams, seinen Hungerstreik, die Misshandlungen – und er macht am Streitgespräch zwischen Rami und seinem Sohn über den Militärdienst deutlich, wie tief die Wehrhaftigkeit zum nationalen Selbstverständnis Israels gehört.
Immer wieder begegnet der Leser dem Beklemmenden der Grenzen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, fährt mal mit Rami, mal mit Bassam durch diese Zonen von Machtgefälle, Willkür,
Demütigung und Misstrauen. Gegen die siebenhundertsechzig Kilometer lange Mauer, die Israelis und Palästinenser trennt, rennt McCann in einer Kaskade von Wörtern an. „Die Sperrmauer. Auch bekannt als die Sperranlagen. Auch bekannt als der Sperrzaun. Auch bekannt als die Sicherheitsanlagen, die Sicherheitsmauer, der Sicherheitszaun. Auch bekannt als die Apartheidsmauer, die Friedensmauer, die Isolationsmauer, die Schandmauer, die WestBank-Mauer, die Herrschaftsmauer, die Annexionsmauer…“Schier unerschöpflich ist McCanns Füllhorn der Geschichten, die dem Roman
eine welthaltige Tiefe und Verwurzelung geben. Alles hängt mit allem zusammen: Der Roman erzählt von den Millionen Zugvögeln, die alljährlich Bait Dschala überqueren, den Ort im Westjordanland, wo Bassam aufwuchs. Um dann im nächsten Fragment von einem surrealen Abendmahl zu erzählen, das Frankreichs Präsident Mitterrand acht Tage vor seinem Tod zelebrierte, als er für ihn gefangene und gemästete Ortolane, winzige Singvögel, ganz verspeiste, samt „der winzigen Schädelknochen, die zwischen seinen Zähnen knirschten“. Mitterrands Bemerkung, „Das einzig Interessante ist, zu leben“, wiederholt McCann immer wieder in seinem Roman, der kunstvoll die Balance hält zwischen erzählerischem Ton und lexikalischer Nüchternheit.
Alles hängt mit allem zusammen, aus einer Geschichte entsteht eine andere: „Smadar wurde im Hadassah-Krankenhaus geboren. Wo Abir starb.“Und die Generation der Geschwister steht irgendwann gemeinsam für die Versöhnung auf der Bühne. Jigal, der fünf war, als seine Schwester Smadar starb. Und Arab, der vierzehn war, als Abir umkam. Colum McCann findet mit seinem fragmentarischen Erzählen immer neue Ebenen und Lesarten – hinter allem deckt er Geschichten auf, die verblüffend und erhellend zeigen, dass es keine simplen Wahrheiten und schlichten Kausalketten gibt. Ob er davon schreibt, dass Pflanzen wimmernde Laute ausstoßen, wenn man ihre Blätter abschneidet, oder vom Mord an dem palästinensischen Dichter Abdel Wael Zwaiter erzählt, den Mossad-Agenten in Rom erschossen (die Kugel ging durch ein Buch mit Smadars Lieblingsmärchen) – Colum McCanns Roman ist ein Kunstwerk, das 1001 Echos folgt. Michael Schreiner
„Das einzig Interessante ist, zu leben“