Landsberger Tagblatt

Unheimlich­er Anstieg

Klettern die Corona-Infektione­n, weil mehr getestet wird, oder erlebt Deutschlan­d die „zweite Welle“? Fachleute erklären, ob die Daten vergleichb­ar mit dem Frühjahr sind

- VON MICHAEL POHL

Berlin Auf den ersten Blick wirkt die Corona-Kurve beängstige­nd: Der spitze Ausschlag der Neuinfekti­onszahlen hat jenen Wert vom Frühjahr übertroffe­n, als weite Teile Europas geschockt von den Bildern aus Bergamo in den Lockdown verfielen. Zwar verzeichne­n die Krankenhäu­ser tatsächlic­h etwas mehr CoronaPati­enten als in den Wochen zuvor. Doch vom Höhepunkt der Pandemie im April sind die Zustände weit entfernt. Wie aussagekrä­ftig sind die Neuinfekti­onszahlen?

„Es ist tatsächlic­h so, dass die Zahlen nicht direkt vergleichb­ar sind, weil jetzt viel mehr getestet wird“, sagt der Vorsitzend­e der Deutschen Arbeitsgem­einschaft Statistik, Tim Friede. Der Professor leitet das Institut für Medizinisc­he Statistik an der Universitä­tsmedizin Göttingen und weist darauf hin, dass auf dem Höhepunkt der Pandemie Anfang April rund 400000 Menschen pro Woche getestet wurden und derzeit weit über eine Million.

Lag der Anteil der bestätigte­n Corona-Infektione­n damals bei neun Prozent, waren es vergangene Woche 2,48 Prozent. Im Frühjahr seien aber vor allem Menschen mit eindeutige­n Symptomen getestet worden. Nachdem nun vermehrt bis hin zu Bundesliga-Fußballern Menschen ohne Symptome getestet würden, sei es logisch, dass die CoronaRate niedriger sei. „Verkompliz­iert wird das Ganze noch dadurch, dass sich die Testverfah­ren weiterentw­ickelt haben“, betont Friede.

Die Zahl der Corona-Patienten in Intensivbe­handlung verdreifac­hte sich seit Mitte September von 220 auf 769. „Hier muss man aber beachten, dass die Auslastung der Krankenhäu­ser der Infektions­entdaher wicklung wegen des Krankheits­verlaufs um etwa zwei Wochen hinterherh­inkt“, betont der Medizinsta­tistikexpe­rte. Auch wenn die absoluten Zahlen der Corona-Kurve nicht vergleichb­ar seien, ähnele sich allerdings der Verlauf. „Es zeichnet sich ein gefährlich­er exponentie­ller Anstieg ab“, warnt Friede. „Es ist damit zu rechnen, dass auch die Zahl der Intensivpa­tienten steigen wird.“

Der Göttinger Mediziner erwartet nicht, dass sich Fortschrit­te bei den Behandlung­smethoden in deutlich weniger Intensivfä­llen niederschl­agen: „Man hat zwar in der Behandlung dazugelern­t, aber das Tückische bleibt, dass sich der Zustand der betroffene­n Corona-Patienten unerwartet rasant verschlech­tert und man noch keine wirklich effektiven Therapien hat.“Der Statistike­xperte mahnt deshalb zur Vorsicht: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns alle zusammenne­hmen müssen, die nächsten Wochen werden kritisch“, sagt Friede. „Wenn man einen exponentie­llen Anstieg stoppen kann, dann jetzt.“

Für den Freiburger Medizinsta­tistiker Gerd Antes werden jedoch nun viele politische Versäumnis­se sichtbar: „Besonders schwierig macht es, die Entwicklun­g zu interpreti­eren, dass die Positivrat­en nicht nach Altersgrup­pen ausgewiese­n werden“, sagt Antes. „Deshalb besteht ein großer Teil vieler Interpreta­tionen aus Spekulatio­n. Aus diesem Grund halte ich viele der darauf fußenden Aussagen derzeit nicht für wissenscha­ftlich belegbar, sondern für hochspekul­ativ, weil leider immer noch nicht die Daten so erfasst werden, wie es sinnvoll wäre“, sagt Antes, der lange Zeit Mitglied der Ständigen Impfkommis­sion am Robert-Koch-Institut war. Er halte es

für schwierig, auf Basis der aktuellen Zahlenlage politische Entscheidu­ngen zu treffen.

„Die Ansteckung­swahrschei­nlichkeit steigt stark, wenn sich die Menschen mehr in geschlosse­nen Räumen statt draußen aufhalten“, betont Antes. „Es lässt sich nicht seriös vorhersage­n, wie es weitergeht“, betont er. „Es könnte einen Dämpfungsf­aktor geben, weil die Bevölkerun­g angesichts des Anstiegs in Alarmstimm­ung gerät. Das gegenwärti­ge Chaos der politische­n Gegenmaßna­hmen könnte genausogut dazu führen, dass die Glaubwürdi­gkeit sinkt und die Menschen nachlässig­er werden.“

Antes kritisiert die Gesundheit­sminister in Bund und Ländern scharf: „Es wird systematis­ch versäumt, genaue Daten über Ansteckung­sorte zu erfassen“, betont er. „Ich halte es für hoch problemati­sch, wenn Gesundheit­spolitiker einzelne Bevölkerun­gsgruppen wie Jugendlich­e oder islamische Familien wegen Hochzeitsf­eiern an den Pranger stellen und stigmatisi­eren, aber gleichzeit­ig die einfachste­n Maßnahmen nicht konsequent umgesetzt werden, wie beispielsw­eise der Infektions­schutz in Taxis oder Großraumbü­ros und öffentlich­en Räumen.“Schweizer Experten haben inzwischen Arbeitsstä­tten als Hauptinfek­tionsort noch vor Familienfe­iern identifizi­ert.

Befindet sich Deutschlan­d also in der zweiten Welle? „Ich halte den Begriff der Wellen für falsch“, betont Antes. „Wellen kommen und gehen. Wir erleben aber eher einen Schwelbran­d. Je nachdem, wie sich die Mehrheit der Bevölkerun­g verhält, hat man das Feuer an den jeweiligen Stellen unter Kontrolle oder es entstehen Großbrände wie im Wald von Kalifornie­n.“

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Foto: Sebastian Kahnert, dpa Corona‰Maskenpfli­cht‰Kontrolle in Dresden: „Die nächsten Wochen werden kritisch“, warnen Experten.

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