Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (81)
Die Stille, die sie umgab, war makellos. Rechts und links der asphaltierten Straße gab es nur Geröll und Sand. Scharfkantig, fast bedrohlich ragten Felsen über dem Tal in die Höhe. Mancini war fasziniert von der Landschaft. Auf einem Felsvorsprung lag das Kloster Musa al-Habaschi.
„Ich habe noch nie erlebt“, begann er, „dass sich jemand für eine Sache so aufopfert, ohne selbst etwas davon zu haben. Ich meine diesen Pfarrer Gabriel. Er wirkte auf mich wie ein heiliger Narr. Er ist so ein begabter Mensch und zugleich unglaublich einfältig. Ein herzensguter, genialer Spinner. Anders als der eitle Bischof und das primitive Ehepaar ist Gabriel völlig selbstlos. Besessen von der Idee, diesem Wunder und der Wunderheilerin Dumia kirchliche Anerkennung zu verschaffen. Obwohl er mehrmals gescheitert ist, wurde er immer eifriger. Die Sache lässt ihm keine Ruhe.
Wenn man in seinem Werk nur blättert, merkt man schon, dass er
das ganze Geschehen komponiert und dirigiert hat. Seine Auftritte mit den Zeugen des Wunders und ihre Bekenntnisse sind lachhaft. Es kommt einem vor wie billiges Boulevardtheater, aber er merkt es nicht, weil er jedem Beweis hinterherhechelt, nicht ahnend, dass der Vatikan mit jedem weiteren Beweis noch misstrauischer wird. Er kennt den Vatikan nicht und handelt deshalb naiv.
Ehrlich gesagt, rund 1400 Seiten kannst du mit gutem Gewissen überspringen, aber die Darlegung von Gabriels eigenen Ansichten muss man sehr genau lesen, denn dann erkennt man, warum er gescheitert ist. Er weiß es auch, und das ist das Irre an seinen Schriften. Er schildert das Hoffnungslose an der Sache präzise und macht dennoch weiter.
Von einigen Leuten habe ich gehört, dass Gabriel andere Termine vernachlässigt, selten den Gottesdienst besucht und kaum noch Reden für den Patriarchen schreibt.
Obwohl das ja seine offizielle Aufgabe ist. Wie mir ein junger Pfarrer erzählte, betrachtet man seine Position in der Zentrale der katholischen Kirche als eine Art Gnadenbrot. Patriarch Bessra hat inzwischen einen jungen Theologen, der ihm die Reden und Predigten schreibt, und lässt Gabriel in Ruhe. Der Patriarch ist, nach meinen Recherchen, ein ausgekochter Diplomat, will aber von einer Heiligsprechung nichts wissen und weigert sich nach anfänglicher Begeisterung, die Frau zu empfangen. Triebfeder der ganzen Bemühungen ist Bischof Tabbich. Das kann man auch in den Schriften erkennen.
Das Ehepaar erscheint mir merkwürdig. Sie sind beide ziemlich einfältig. Der Mann ist etwas schlauer, die Frau sehr emotional und immer den Tränen nahe. Sie weint aus dem geringsten Anlass. Wie du weißt, hat sie zwei Brüder. Wenn du mich fragst, ich habe es dir gestern schon gesagt: Die Heilerin, der Ehemann und der Pate sind harmlos, aber wer weiß, ob irgendein fanatischer Anhänger hier seine kriminelle Hand im Spiel hat. Deine Mitarbeiter sollten das Umfeld dieser Familie durchforsten“, schloss Mancini seinen Bericht. Barudi nickte dankbar für die gründliche Übersicht, so zusammengefasst war die Sache griffiger geworden. Sie fuhren weiter,
Barudi fragte nach Details und bewunderte die solide Recherche seines italienischen Kollegen. Als sie schließlich den Parkplatz am Fuße des Klosters erreicht hatten, schaltete Barudi den Motor aus, zog sein Handy aus der Tasche und rief Ali an.
„Ali, mein Guter, wir sind auf dem Weg zum Kloster. Aber außer Major Suleiman soll niemand etwas davon erfahren… Ja, ich weiß, und ich schätze deine verschwiegene Art, aber es schadet nicht, die Gläubigen an das Gebet zu erinnern… Schon gut, schon gut. Hör zu, ich möchte alles über die Familie der Heilerin Dumia wissen und ob es unter ihren Anhängern Fanatiker gibt. Du leitest die Beschattung durch zuverlässige Kollegen und hältst mich auf dem Laufenden, was ihr erreicht habt… Nein, das wäre es für heute… Wem?… Ich kenne keinen Kommissar Mancini“, sagte er und lachte. Dann legte er auf. „Ali lässt dich grüßen“, sagte er.
„Er ist ein guter Mann. Klar und entschlossen“, erwiderte Mancini.
„Ja, manchmal zu entschlossen“, relativierte Barudi das Lob und begann dann, ausführlich von seiner Begegnung mit Scheich Farcha zu erzählen. Mancini staunte nicht wenig über den anonymen Brief, den der Scheich bekommen und der ihn angeblich über die geheime Mission des Kardinals informiert hatte.
Der Italiener hörte konzentriert zu. „Ich glaube diesem Scheich kein Wort“, sagte er, als Barudi zum Ende gekommen war. „Dieser Brief ist fingiert und nichts als eine raffinierte Finte. Er wusste, dass man ihn fragen würde, wie er von der Ankunft des Kardinals erfahren hatte. Und das hast du getan. Ich bin fest davon überzeugt, dass er mit den Islamisten zusammenarbeitet. Die verfügen auch über einen Nachrichtendienst. Wenn du mich fragst …“
„Ja, ich denke auch, wir sollten ihn überwachen“, lachte Barudi und zückte wieder sein Handy. Dieses Mal rief er Nabil an.
„Na, wie geht’s? Langweilst du dich?… Ach, wirklich? Ich vermisse euch auch. Mein Lieber, könntest du über deine guten Beziehungen an Scheich Farcha herankommen? Ich möchte genau wissen, mit wem er Verbindung hält… Ja, auch sein Telefon, aber geh zu Suleiman und sag ihm, dass wir es brauchen und ich das wünsche. Er ist der Chef, und das ist auch für dich gut. Wenn herauskommt, dass du den Scheich ausgehorcht hast, lässt er dich nicht fallen. Du kannst auch Farchas Sekretärin unter die Lupe nehmen, aber verrate ihr nicht, dass du ein
Alawit bist, sonst gibt sie dir nicht die Hand… Nein, nein. Das reicht für heute… Bitte, bitte, gern geschehen. Für solche Tipps bin ich immer zu haben… Ja, gern, mache ich sofort. Er sitzt hier neben mir im Garten Eden“, schloss Barudi und lachte wieder.
„Nabil lässt dich grüßen. Er wird den Scheich rund um die Uhr überwachen. Das kann er. Er hat mehrere Cousins im Geheimdienst.“
„Ich finde ihn zu charmant“, sagte Mancini giftig. Nachdem für den Augenblick alles besprochen war, stiegen sie aus dem Wagen und bereiteten sich auf den Aufstieg vor.
Barudi hatte nicht übertrieben. Endlos war die Treppe, die sich wie eine riesige Schlange um den Berg wand. Bei Stufe zweihundertfünfzig hörte Mancini auf zu zählen.
29. Pater Josés nicht erfüllter Wunsch
Der Empfang war überaus freundlich. Ein junger Mönch überreichte ihnen ein Glas frisches Wasser. Barudi hatte Mancini erzählt, dass dieses Kloster neben den beiden christlichen Elementen Gebet und Arbeit auch die arabischen Prinzipien Gastfreundschaft und Dialog pflegte.