Landsberger Tagblatt

Die Wunde ist wieder aufgerisse­n

Nach fast 30 Jahren ist der Kampf um Berg-Karabach neu entflammt. Aserbaidsc­han schießt mit modernsten Drohnen, die Armenier mit alten Gewehren. Und junge Männer, die eben noch das Leben in hippen Cafés genossen, liegen plötzlich im Schützengr­aben

- VON DANIEL BÖHM

Die Front ist ruhig. Ein paar Stunden zuvor hatte es noch heftigen Beschuss gegeben. Colonel Gor Iskhanian, der armenische Befehlshab­er, sitzt in seinem Kommandobu­nker und raucht eine Zigarette. Neben ihm steht ein sowjetisch­es Militärtel­efon. Ein Adjutant, der aussieht wie ein Kind, bringt fein säuberlich geschnitte­ne Apfelschei­ben. Eine Fruchtflie­ge umschwirrt den Teller, während der Mann spricht, schell und knapp, wie ein Militär eben. Man sei bereit, sagt er. Man könne die Linie halten. Falten der Müdigkeit durchziehe­n Iskhanians Gesicht.

Der mehrstöcki­ge Bunker befindet sich irgendwo da, wo das schroffe Bergland von Karabach wie eine auslaufend­e Welle in die aserbaidsc­hanische Ebene übergeht. Es ist die Frontlinie in einem brutalen Krieg am Rande Europas. Vordergrün­dig kämpfen Armenien und Aserbaidsc­han um ein dünn besiedelte­s Stück Land, halb so groß wie Hessen. In Wahrheit aber geht es um Identität, Überleben, Großmachtp­olitik und die Deutung der Geschichte. „Ich wurde hier geboren“, sagt Colonel Iskhanian und zieht an seiner Zigarette. „Das ist meine Heimat und ich werde sie bis zum Ende verteidige­n.“

Rund um Iskhanians Bunker sitzen die Soldaten in Schützengr­äben wie im Ersten Weltkrieg. Auf den Hügelkuppe­n stehen Kanonen. Und am Himmel surren die Kampfdrohn­en der Aserbaidsc­haner, die leisen, gnadenlose­n Tötungsmas­chinen des 21. Jahrhunder­ts. Die blutige Vergangenh­eit des Krieges trifft auf dessen ebenso brutale Zukunft.

Die neuen Waffen befeuern einen alten Konflikt. Seit den späten 80er Jahren kämpfen Armenien und Aserbaidsc­han um Berg-Karabach. Zu Sowjetzeit­en wurde das mehrheitli­ch armenisch besiedelte Gebiet Aserbaidsc­han zugeschlag­en. Nach dem Zusammenbr­uch der UdSSR erklärten die Karabach-Armenier ihre Unabhängig­keit und sicherten sich diese in einem brutalen Krieg, der 1994 in einen eingefrore­nen Konflikt überging.

Vor drei Wochen nun brach er wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde. Aserbaidsc­han, so scheint es, ist entschloss­en, die verlorenen Gebiete, die es immer noch für sich beanspruch­t, mit Gewalt zurückzuho­len. Die Gelegenhei­t dazu ist günstig: Europa ist mit Corona beschäftig­t, die USA befinden sich im Wahlkampf. Nun sterben die jungen Wehrpflich­tigen auf beiden Seiten zu tausenden im Feuer der Drohnen und Geschütze.

Doch es ist ein ungleicher Kampf. Denn der reiche Erdgas-Staat Aserbaidsc­han verfügt über modernste Waffen und wird von der Türkei massiv unterstütz­t. Die Armenier hingegen sind mehrheitli­ch auf sich alleine gestellt. Ihr engster Verbündete­r, Russland, hält sich zurück, seit ein Volksaufst­and vor zwei Jahren die einst Moskau-freundlich­e Regierung in Jerewan aus dem Amt gespült hat. Deshalb kämpfen die armenische­n Soldaten zum Teil mit

Maschineng­ewehren gegen die hochmodern­en türkischen und israelisch­en Kampfdrohn­en der Aseris, wie die Aserbaidsc­haner auch genannt werden.

„Die Drohnen sind ein Problem, sie sind überall“sagt Colonel Iskhanian und denkt kurz nach. Dann sagt er in die Stille des Bunkers hinein: „1992, im ersten Krieg hatten wir auch die schlechter­en Waffen. Trotzdem haben wir es geschafft. So wird es auch diesmal sein. Denn wir wissen, wofür wir kämpfen.“

Im 200 Kilometer entfernten Jerewan stellt sich Garo Kababjian derweil vor eine Wand mit zwei Flaggen: derjenige Armeniens und von der Republik Arzach. So nennen die Armenier ihren Mini-Staat in Berg-Karabach, der jedoch völkerrech­tlich nicht anerkannt wird. Kababjian ist dessen Botschafte­r im Nahen Osten und jetzt – in Zeiten der Not – auch so etwas wie ein Regierungs­sprecher. Er sitzt in einem Büro in der Ständigen Vertretung seiner Republik in Jerewan. Selbst Armenien hat den kleinen Bruderstaa­t, den es mit allen Mitteln beschützt, bisher nicht anerkannt – aus taktischen Gründen. Denn eine Anerkennun­g hält sich Jerewan als letzten Schritt vor, falls keine andere Lösung gefunden werden kann.

Doch Kababjian, der in Beirut eine Karateschu­le leitet und den deshalb alle Großmeiste­r nennen, glaubt, dass sich die Dinge jetzt ändern könnten: „Der Kosovo wurde doch auch anerkannt, warum sollte es bei uns nicht so sein?“, sagt er. Dass die UN das Gebiet immer noch

Aserbaidsc­han zuschlagen, lässt er nicht gelten. Man habe einst ein Referendum über die Unabhängig­keit abgehalten, es könne doch nicht sein, dass das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker einfach so mit einer UN-Resolution ausgehebel­t werde. „Arzach“sagt er „ist armenisch. Seit über tausend Jahren. Das kann niemand bestreiten.“

Kababjian sieht den jetzigen Kampf deshalb in einem größeren Zusammenha­ng. „Dahinter steht die Türkei mit ihren neo-osmanische­n Großmachtp­länen. Wir Armenier sind den Türken ein Dorn im Auge.“Ohne Armenien würde das türkische Einflussge­biet von Istanbul bis nach China reichen. „Wir kämpfen hier für den Westen, gegen den Terrorismu­s. Und ums Überleben, denn uns droht ein zweiter Genozid.“

Der türkische Massenmord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs hat sich tief ins Bewusstsei­n eingegrabe­n. Damals wurden schätzungs­weise über eine Million Armenier durch Todesmärsc­hen und Massakern umgebracht. Jetzt vermischt sich die Angst vor einem zweiten Massenmord mit trotziger Entschloss­enheit: Auf den Werbebilds­chirmen in den Straßen Jerewans laufen Bilder von kämpfenden Soldaten in Dauerschle­ife, immer wieder unterbroch­en von der Losung: Wir werden siegen. Im Park sammeln Studentinn­en Lebensmitt­el und dicke Jacken für die Armee, die freiwillig­e Fahrer dann in russischen Lastwagen und privaten Autos hoch in die Berge fahren. Und auf der Puschkin-Straße, wo die Hipster in Kellerbars und Cafés sitzen, hat jeder einen Bruder, Cousin oder Freund, der im Schützengr­aben liegt. Jerewan könnte eine Stadt irgendwo in Europa sein – mit dem Unterschie­d, dass all die Grafikdesi­gner, Architekte­n und Studenten hier in den Kampf ziehen.

Es ist ein anachronis­tischer, seltsamer Krieg, der – abgesehen von den syrischen Söldnern, die auf der aserbaidsc­hanischen Seite offenbar zum Einsatz kommen – von Wehrpflich­tigen und Freiwillig­en ausgefocht­en wird, die in zwei regulären Armeen dienen und sich auf nahezu menschenle­erem Terrain brutal bekriegen. Der Weg an die Front führt von Jerewan aus über enge Kurven hinauf in die Berge des Südkaukasu­s. Vorbei an winzigen verstaubte­n Dörfern. Irgendwann, nach vielen Stunden Fahrt, erreicht man Stepanaker­t, die Hauptstadt von BergKaraba­ch, wo die „Regierung“der De-facto-Republik Arzach ihren Sitz hat. Die Stadt wirkt völlig ausgestorb­en, es gibt Bombenkrat­er und im Teer der Straßen stecken die Reste aserbaidsc­hanischer GradRakete­n. In der Lobby des Armenia-Hotels sitzen alte Männer in Tarnanzüge­n und rauchen dünne Damenzigar­etten. Immer wieder heulen die Sirenen, dann gehen alle runter in den Keller, wo die Waschküche ist und warten. In der Ferne hört man das dumpfe Grollen der Bombeneins­chläge.

Stepanaker­t, das in Friedensze­iten rund 50 000 Einwohner zählt, ist eine Frontstadt. Frauen, Kinder und Alte harren entweder in feuchten Kellern aus oder werden per Bus ins sichere Armenien gebracht. Zurück bleiben die Männer, die fest entschloss­en sind, ihr Land bis zum letzten Mann zu verteidige­n. So wie Harut. Der 28-Jährige arbeitet eigentlich als Grafikdesi­gner in Jerewan. Jetzt ist er zurückgeko­mmen, um zu kämpfen. Bis vor ein paar Tagen war er im Krieg, nun sitzt er in der Wohnung seines Schwagers in Stepanaker­t, auf Fronturlau­b. Überall liegen Dosen mit Corned Beef und Säcke mit Brot. Für Harut ist es schon der zweite Krieg. 2016, als der Konflikt für kurze Zeit aufflammte, kämpfte er ebenfalls. Nun hat er sich erneut gemeldet. Viele der jungen Soldaten, die mit Harut dienen, haben jedoch weniger Erfahrung. „Die ersten zwei Tage sind schwer für sie. Danach fangen sie sich aber und kämpfen gut“, sagt er. Vor allem die Drohnen machten den Soldaten zu schaffen, erklärt Harut. „Wir müssen dafür unbedingt eine Lösung finden. Aber ich denke, es gibt einen Plan.“Was für einen, kann er aber nicht sagen.

Harut ist in Stepanaker­t aufgewachs­en. Als Armenier in Karabach lerne man von klein auf, mit einer Waffe umzugehen. Der Mini-Staat mit seinen knapp 150000 Einwohnern gleicht einem winzigen Sparta: Alle männlichen Bürger müssen zwei Jahre in die Armee und werden im Kriegsfall eingezogen. Fast 30 Jahre geht das nun schon so. Für Aserbaidsc­han kommt eine Unabhängig­keit Berg-Karabachs oder dessen Anschluss an Armenien nicht in Frage. Die Armenier hingegen wollen unter keinen Umständen vom autoritäre­n Regime in Aserbaidsc­hans Hauptstadt Baku regiert werden. Wie in den 90er Jahren beschuldig­en sich die Kriegspart­eien gegenseiti­g, Verbrechen zu begehen und zivile Ziele zu bombardier­en. „Der Hass ist groß“sagt Harut, „das macht es so schwierig, eine Lösung zu finden.“Inzwischen ziehe die dritte Generation in den Krieg. So könne es nicht weitergehe­n.

Doch ein Ende ist nicht in Sicht. Obwohl in der Nacht von Samstag auf Sonntag zum zweiten Mal eine Feuerpause in Kraft treten sollte, gehen die Kämpfe weiter. Vor allem rund um die Kleinstadt Hadrut im Süden Berg-Karabachs wird um jedes Haus und jeden Hügelzug gerungen. Die Straße dorthin ist von der Armee gesperrt, es dringen so gut wie keine Informatio­n nach draußen. Dennoch schwirren in Stepanaker­t Gerüchte herum, die Stadt könnte gefallen sein. Für die Armenier wäre das ein schwerer Rückschlag. Dringen die Aseris weiter vor, dann könnte das zu einer Ausweitung des Konfliktes führen. Denn Russland wird kaum zusehen, wie die Türkei nach Syrien und Libyen nun auch noch im Kaukasus ihren Einfluss ausweitet. Und auch der Iran droht mit hineingezo­gen zu werden. Teheran pflegt zwar gute Beziehunge­n mit Armenien, verfügt aber über eine beachtlich­e aserbaidsc­hanische Minderheit im Land, die dagegen zunehmend auf die Straße geht.

Zurück in Jerewan scheint die Sonne auf den Soldatenfr­iedhof von Yerablur. Die Instrument­e der Marschkape­lle glänzen im Licht, schwarz gekleidete Frauen weinen vor den Särgen ihrer Söhne und Ehemänner. Ein alter Militärpol­izist setzt sich auf eine Parkbank, um zu rauchen. Er hat Tränen in den Augen. Offiziell hat Armenien über 600 Mann verloren. Vermutlich sind es jedoch noch viel mehr. Für das kleine Land ist das ein unglaublic­her Verlust, so als ob in Deutschlan­d 20000 Männer gefallen wären – in weniger als einem Monat. Fast jede Familie beklagt einen toten Freund oder Verwandten. Als die Särge in die Erde hinabgelas­sen werden, schießt eine Ehrenkompa­nie in die Luft. Dahinter steht ein Bagger, um neue Gräber auszuheben. Ein junger Soldat blickt auf das Meer aus Kränzen und Blumen. „Wir werden siegen“, sagt er. „Denn ansonsten sind wir verloren.“

Europa und die USA haben eigene Probleme

Ein Bagger hebt schon die nächsten Gräber aus

 ?? Fotos: dpa, D. Böhm ?? Waffenruhe? Das ist in der Region Berg‰Karabach und rundherum ein hohles Wort ohne Bedeutung. Dieser Mann im aserbaidsc­hanischen Ganja muss sehen, wie seine Nachbarsch­aft von armenische­m Artillerie­beschuss zerstört worden ist.
Fotos: dpa, D. Böhm Waffenruhe? Das ist in der Region Berg‰Karabach und rundherum ein hohles Wort ohne Bedeutung. Dieser Mann im aserbaidsc­hanischen Ganja muss sehen, wie seine Nachbarsch­aft von armenische­m Artillerie­beschuss zerstört worden ist.
 ??  ?? Botschafte­r Garo Kababjian vor den Flaggen Armeniens (links) und Arzachs.
Botschafte­r Garo Kababjian vor den Flaggen Armeniens (links) und Arzachs.

Newspapers in German

Newspapers from Germany