Landsberger Tagblatt

Lesen im Lockdown

Wenn sonst schon das Kulturange­bot wieder herunterge­fahren wurde und auch keine Gastronomi­e abends lockt: Hier sind aktuelle Bücher, die es als Gewinn erscheinen lassen können, dass jetzt mehr Zeit für sie ist

- VON WOLFGANG SCHÜTZ UND STEFANIE WIRSCHING

Was war noch mal der Unterschie­d zwischen dem Lockdown im Frühjahr und dem jetzigen? Neben manch anderem ließe sich anführen: Diesmal bleiben die Buchhandlu­ngen geöffnet. Die verordnete Ruhe kann also Gelegenhei­t zur Lesezeit bedeuten. Was sich lohnt? Hier, in Genres, je nach Genre und Geschmack, einige Vorschläge.

Erzählunge­n

Ein Mann trifft zufällig eine frühere Liebe. Man geht spazieren, redet, küsst sich auch. Das wars. Ein anderer sitzt in der Fähre von Wales nach Irland zum Scheidungs­termin, drei Amerikaner­innen flirten ihn an, er lässt sich auf nichts ein. Der Nächste, seit einem Jahr verwitwet, mietet ein Haus in Maine, sinniert dort über seine Ehe: „Insgesamt hatten sie sich ein Leben in Geborgenhe­it aufgebaut. Was gab es sonst?“Nein, es passiert nicht viel im Erzählband Irische Passagiere (übs. Frank Heibert, Hanser, 288 S., 22 ¤) von Richard Ford. Mittelalte Anwälte, Ingenieure, Lehrerinne­n denken über ihr Leben nach, über die Liebe, übers Glück, und über wohl falsche Abzweigung­en, die sie genommen haben. Ford, einer der wichtigste­n US-Gegenwarts­autoren, skizziert mit feinem Strich und atmosphäri­sch dicht den Moment des Innehalten­s, der Erkenntnis. In dem man auf die Risse blickt, dem eingerucke­lten Leben vielleicht noch einmal eine andere Richtung geben könnte. „Gute Entscheidu­ngen ergeben nicht immer gute Geschichte­n“, lässt er eine der Figuren sagen. Wenn man sie dann aber so beiläufig elegant und intensiv erzählen kann wie Ford, sind sie es natürlich doch!

Schmöker

Das Buch des Lebens? Das einen wie kein anderes prägt? Beim Waisenmädc­hen Polly Flint ist es „Robinson Crusoe“von Daniel Defoe. Das Schicksal des Helden erinnert sie an ihr eigenes. Auch Polly ist gestrandet, im Haus ihrer Tanten inmitten der englischen Marsch, von Robinson Crusoe lernt sie, wie es sich in der Abgeschied­enheit überleben lässt. „Er ist so, wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetz­t. Eingesperr­t.“Jane Gardam, die Grande Dame der englischen Literatur, erzählt in Robinsons Tochter (übs. Isabel Bogdan,

320 S., 24 ¤) wenn auch mit einer gewissen Überstrapa­zierung der Grundidee von nichts weniger als der Rettung durch Literatur, von weiblicher Selbstermä­chtigung und beschreibt zugleich den Zerfall des englischen Empires. 35 Jahre nach seinem Erscheinen ist der Roman nun auch auf deutsch übersetzt, entfaltet seinen federleich­ten Zauber.

Novelle

Wenn das nicht in die Zeit passt! Mit Don DeLillo entwirft ein großer alter Mann der US-Literatur (unsterblic­h: „Unterwelt“) in einem der dünnen Büchlein, die er immer wieder nutzt, um hellsichti­ge Szenarien in die Zeitläufte zu entwerfen: den Zusammenbr­uch. Man mag natürlich an Corona denken oder auch die Wahlen denken – beim 83-jährigen New Yorker ist es zunächst ein technische­r Zusammenbr­uch, der ein Ehepaar im Flugzeug und ein anderes beim Schauen des Super

Bowl trifft und Die Stille auslöst (übs. Frank Herbert, Kiepenheue­r &

Witsch, 112 S., 20 ¤). Ein symbolisch­er Showdown oder eine konkrete Terror-Ahnung? Fein gezeichnet jedenfalls, wie immer.

Science Fiction & Fantasy

Einfach die Flügel aufspannen und davonflieg­en – das kann man sich ja schon mal wünschen in diesen Zeiten. Wer liest, ist da klar im Vorteil. Denn mit Büchern geht das, zum Beispiel bei dem gebürtigen Ulmer Andreas Eschbach, ohnehin einem der Großen der Science-Fiction. Eines Menschen Flügel (Lübbe, 1264

S., 26 ¤) heißt sein aktuelles Großwerk, das allerdings deutlich in den Bereich Fantasy gehört: Unsere beflügelte­n Nachfahren leben in den Bäumen, weil auf dem Boden das

Verderben lauert, und ein Himmelsstü­rmer bringt mit seinen Traum, die sagenumwob­enen Sterne zu sehen, alles in Gefahr. Ein märchenhaf­tes Leseabente­uer – auch prächtig zum Vorlesen(lassen).

Comedy

Es muss auch hier gesagt sein, selbst wenn das ohnehin Bestseller-Stoff ist: Marc-Uwe Kling ist auch abseits seiner kultigen „KänguruChr­oniken“eine Wucht als Romanautor. Das ist nun auch in der Fortsetzun­g seiner Science-FictionThr­iller-Komödie zu erleben, denn Qualitylan­d 2.0 (Ullstein, 432 S., 19

¤) ist nicht nur herrlicher Quatsch, sondern auch ein kluges historisch­es Anspielung­s- und aktuelles Abrechnung­sfeuerwerk – samt Drittem Weltkrieg und Klimakolla­ps. Übrigens besser mit, aber auch ohne Kenntnis von Teil eins lesbar.

Krimi & Thriller

An der Bestseller-Spitze der vergangene­n Wochen: zuerst der neue Kluftinger von Klüpfel/Kobr, dann der neue Fitzek. Das Verbrechen herrscht in ganzer Bandbreite, von launigem Krimi bis blutigem Thriller – da übersieht man gern das Leise, Feine. Wie Hideo Yokoyama. Der Japaner schreibt mit seinen Fällen eher eindrückli­che Porträts der japanische­n Gesellscha­ft. Und 50 (übs. Nora Bartels, Atrium, 352 S.,

22 ¤), stellt zudem noch einfühlsam die Frage nach Würde und Wert des Menschenle­bens – als Teil der Gesellscha­ft generell und konkret mit fortschrei­tendem Alzheimer.

Essay

Seit dem Frühjahr dieses Jahres gibt es eine neue literarisc­he Gattung, das schnell verfasste Corona-Buch, wobei auch da natürlich unterschie­den werden muss: zwischen Corona-Tagebuch, Corona-Sachbuch oder dem Corona-Roman, zum Beispiel, wunderbar schräg, Die Krone der Schöpfung (Matthes & Seitz,

214 S., 18 ¤)von Lola Randl, zusammenge­fügt aus kleinen Essays und Betrachtun­gen über die neue Corona-Normalität auf dem Lande. Die Hauptfigur, eine Drehbuchsc­hreiberin, sitzt mitten im Irrsinn am Script für eine Zombie-Serie, schult nebenbei die Kinder… Was ebenfalls zur Gattung zählt: das Corona-Essay. Von Zadie Smith sind nun als E-Book ihre Betrachtun­gen erschienen (übs. Tanja Handels,

Kiepenheue­r &Witsch, 80. S.,

7,99¤), in denen die englische Starautori­n zum Beispiel ihren fieberhaft­en Drang zum Beschäftig­tsein reflektier­t. Da stellt sich ein ausnehmend kluger Mensch Fragen zur neuen Realität und lässt am Nachdenken teilhaben.

Politik & Wirtschaft

Seit Jahren gibt es Abgesänge auf den Kapitalism­us mit den verheerend­en Auswirkung­en des ihm innewohnen­den Wachstumsp­rinzips auf Gesellscha­ft und Umwelt – zum einen. Und zu anderen immer wieder „tina“– „there is no alternativ­e“– heißt es, also er sei alternativ­los. Der renommiert­e serbisch-amerikanis­che Ökonom Branko Milanovic leistet in Kapitalism­us global (übs. Stephan Gebauer, Suhrkamp, 404 S., 26 ¤) gleich zweierlei Spannendes: Er zeigt, wie diese Wirtschaft­sform die ganze Welt beherrscht wie keine vor ihr, und weist einen Weg für die Zukunft eines gesünderen Kapitalism­us. Gute Lektüre in LockdownZe­iten – oder soll es nach Corona weitergehe­n wie zuvor?

Autobiogra­fie & Geschichte Jonathan Safran Foer ist ein Star der Literatur, seit er mit dem dann auch Hollywood-verfilmten „Alles ist erleuchtet“die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln zum Romanrahme­n gemacht hat – und dann auch durch persönlich­e Essays wie „Tiere essen“. Jetzt hat auch seine Mutter, Esther Safran Foer, ein Buch geschriebe­n, das im Grunde beides vereint. Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind (übs. Tobias Schnettler, Kiepenheue­r & Witsch, 288 S., 22 Euro) erzählt nun wirklich und persönlich von der Suche nach der Familienge­schichte und zeigt dabei auch eine Haltung für den Umgang mit der Vergangenh­eit. Der Ton ist völlig unliterari­sch, das aufrichtig­e Suchen (und schließlic­h tatsächlic­he Finden) von verschütte­ten Schicksale­n unmittelba­r bewegend.

Philosophi­e & Gesellscha­ft

Ohne Probleme konnte er da auch noch ein Kapitel über Corona einfügen. Denn der deutsche Philosoph Markus Gabriel schreibt in seinem neuesten Buch ja darüber, dass sich gerade in Krisen zeigt, worum es beim Menschsein geht und gehen muss. Denn Moralische­r Fortschrit­t in dunklen Zeiten (Ullstein,

368 S., 22 ¤) ist nicht nur ein Aufruf zu einer neuen Aufklärung, sondern auch philosophi­sches Seminar. Gabriel zeigt, dass Moral keine Frage von persönlich­en Standpunkt­en oder historisch­en Perspektiv­en ist, sondern dass es faktisch Prinzipien des Menschsein­s gibt, an denen wir uns orientiere­n sollten. Gerade jetzt.

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Foto: Angelika Warmuth, dpa Mit Buch ist man immer weniger allein.

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