Landsberger Tagblatt

Wie der Corona‰Impfstoff verteilt werden soll

Schon heute will die EU-Kommission den Vertrag mit den Hersteller­n Biontech und Pfizer besiegeln. Deutschlan­d soll zunächst 38 Millionen Dosen bekommen. Warum der Gesundheit­sminister mit deutlich mehr rechnet

- VON MICHAEL STIFTER, STEFAN LANGE, MICHAEL POHL UND DETLEF DREWES

Berlin Die Adresse der Firma Biontech, die den ersten Corona-Impfstoff auf den Markt bringen will, könnte passender nicht sein: Das Unternehme­n hat seinen Sitz „An der Goldgrube“in Mainz. Die Nachricht, dass Biontech in Zusammenar­beit mit dem US-Konzern Pfizer ein Präparat herstellen kann, das laut Tests zu 90 Prozent vor einer Erkrankung mit Covid-19 schützt, löste am Montag eine Art Goldgräber­stimmung aus. Die entscheide­nde Frage am Tag danach: Wer bekommt denn nun den lange ersehnten Impfstoff? Und wie weit sind die Verträge der EU-Kommission mit den Hersteller­n tatsächlic­h?

In Brüssel bemühte man sich, erst gar keine Diskussion darüber aufkommen zu lassen, der in Deutschlan­d entwickelt­e Stoff könnte vorrangig den USA oder anderen Ländern zur Verfügung stehen. Genau davor hatte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn zuvor gewarnt. Die EU-Kommission war da offenbar bereits einen Schritt weiter. Schon an diesem Mittwoch will Präsidenti­n Ursula von der Leyen den Vertrag besiegeln, der den Staaten der Europäisch­en Union 200 Millionen Dosen des Impfstoffe­s und eine Option auf weitere 100 Millionen zusichert. Die Verteilung richtet sich nach dem Bevölkerun­gsanteil. Die Bundesrepu­blik hätte damit in der ersten Charge nur einen Anspruch auf rund 38 Millionen Dosen. Da zwei Spritzen für einen Impfschutz benötigt werden, könnten sich also zunächst nur etwa 19 Millionen Menschen impfen lassen.

Spahn hatte deutlich mehr gesicherte Dosen in Aussicht gestellt. Dieser vermeintli­che Widerspruc­h erklärt sich damit, dass die EU auch große Kontingent­e bei anderen möglichen Hersteller­n reserviert hat. Allerdings sind diese in der Entwicklun­g eben noch nicht so weit wie Biontech und Pfizer.

Die EU-Kommission hat die Verträge in den vergangene­n Monaten im Sinne einer solidarisc­hen Lösung für die ganze Gemeinscha­ft ausgehande­lt, bezahlen muss jeder Mitgliedss­taat seinen Anteil an der Sammelbest­ellung aber selbst. Experten gehen davon aus, dass eine Impfdosis zwischen fünf und 20 Euro kosten wird. Dazu kommt allerdings noch der immense logistisch­e Aufwand für den Transport und die Kühlung. Der Biontech-Impfstoff muss beispielsw­eise durchgängi­g auf minus 70 Grad tiefgefror­en werden.

Um die Pandemie wirksam einzudämme­n, müssten nach Einschätzu­ng

von Experten mindestens 60 Prozent der Bürger immun gegen das Virus werden – sei es mithilfe einer Impfung oder weil ihr Körper durch eine durchlaufe­ne Covid-Infektion genügend Antikörper aufgebaut hat. Ein 90-prozentige­r Schutz läge im Übrigen deutlich über der Sicherheit, die eine Grippeimpf­ung bringt. Wie frühere Umfragen ergeben haben, will sich allerdings nur etwa die Hälfte der Deutschen überhaupt impfen lassen. Eine Impfpflich­t steht nicht zur Debatte.

Für die erste große Welle könnten die vertraglic­h zugesicher­ten Mengen demnach reichen. „Wir gehen davon aus und sind auch damit angetreten, bis zu 100 Millionen Dosen für Deutschlan­d zu sichern“, sagte Spahn. Er ist optimistis­ch, dass es schon im ersten Quartal kommenden Jahres einen fertigen und zugelassen­en Impfstoff geben wird. Der Gesundheit­sminister sprach vom „Licht am Ende des Tunnels“. Das Wissen, dass Herbst und Winter 2021 „deutlich besser“werden könnten, gebe ihm Kraft. Forschungs­ministerin Anja Karliczek dämpfte die Euphorie. Noch handele es sich bei den Studien von Biontech „um Zwischener­gebnisse, welche sich in weiteren Analysen und durch die Auswertung größerer Probandenz­ahlen noch bestätigen müssen“, sagte sie unserer Redaktion und fügte hinzu: „Ein Antrag auf Zulassung noch in diesem Jahr wäre ein ganz, ganz enormer Erfolg.“Im Zulassungs­verfahren gelten die üblichen Anforderun­gen, wie sie an jeden

Impfstoff gestellt werden. Allerdings wird das Prozedere beschleuni­gt: Unternehme­n müssen nicht abwarten, bis sie alle Dokumente zusammenha­ben, sondern können diese nach und nach einreichen, sobald sie vorliegen. Für Deutschlan­d und Europa gelten dabei andere Bestimmung­en als in den USA. Der für das Thema Gesundheit zuständige Unionsfrak­tionsvize Georg Nüßlein sprach sich für ein abgestimmt­es Vorgehen aus. „Ziel aller Beteiligte­n muss es sein, dass es keine deutlichen zeitlichen Unterschie­de zwischen der amerikanis­chen und der europäisch­en Zulassung gibt – trotz unterschie­dlicher Maßstäbe“, sagte der CSU-Politiker unserer Redaktion. Dies gelte gerade unter der Voraussetz­ung, „dass keine kritischen Nebenwirku­ngen zu erwarten sind, wie von Biontech und Pfizer übereinsti­mmend behauptet“.

Im Leitartike­l schreibt Rudi Wais, dass der Politik nun brisante Verteilung­sfragen bevorstehe­n. Im Porträt auf Seite 2 stellen wir die Wissenscha­ftler hinter dem Erfolg vor. Das Interview mit Ministerin Karliczek finden Sie in der

„Ein Antrag auf Zulassung noch in diesem Jahr wäre ein ganz, ganz enormer Erfolg.“

Wissenscha­ftsministe­rin Anja Karliczek

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